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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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seiner bedient, um dem familiären Nest zu entfliehen, und ihre Mutter, die sich so über Stan ärgert, weiß das instinktiv. Ihr Schwiegersohn ist vor allem ihr Rivale, denn auf ihn stützt sich Anna, um sich von ihr zu lösen. Heute Abend weiß Anna, dass sie sich noch immer in der Mitte der Furt befindet.
    Sie zieht ihre Schuhe aus, räumt mechanisch ihre Kleider in den Schrank. Nachdem sie so glücklich in den Armen von Yves war, ist sie erstaunt, wie leicht sie in die friedliche Milde der Rue Érasme zurückgefunden hat. Sie fühlt sich ausgeglichen, ja, das ist es, ausgeglichen. Zu Yves hat sie gesagt:
    – Mit dir schreite ich voran, komme ich voran, aber ich befinde mich in stetem Ungleichgewicht, meine Lage ist instabil.
    Er hatte dem Bild zugestimmt und geantwortet:
    – Das ist normal. Wenn man geht, ist keine der einzelnen Körperpositionen stabil. Wenn du eine stabile Position suchst, darfst du dich auf keinen Fall bewegen.
    Sie hatte ihm auch gesagt:
    – Mit meinem Mann sitze ich auf einem Ozeandampfer, in der ersten Klasse. Das sagt mir jeder.
    Mühelos konnte Yves sie sich träge in einem Liegestuhl vorstellen, umgeben von ihrer Familie, in der Ferne die vagen Dunstschwaden über der Küste betrachtend, ohne je auf den Gedanken zu verfallen, dort anzulegen. Er hatte sich gefragt, ob das Leben wirklich dem Teakholzdeck eines Kreuzfahrtschiffs gleichen könnte. Sie hatte ihn dann mit einem Segelboot verglichen, wobei sie ihm in ihrer großen Güte das Prestige eines Zweimasters zugestand. Das Bild war ihm als etwas grausam erschienen, aber nicht als ungerecht.
    – Ich weiß nicht, hatte sie noch hinzugefügt, ob es eine gute Idee ist, einen Ozeandampfer gegen eine Ketsch einzutauschen.
    Stan schaut Anna bei ihrer Geschäftigkeit zu. Er nähme seine Frau gerne in die Arme, aber sie würde seine Umarmung erwidern, und er fürchtet, dass er ihr diese Verstellung übel nehmen könnte.
    – Ich gehe mal unter die Dusche, Schatz, sagt Anna. Ich rieche vom ganzen Tag nach Schweiß, und das hasse ich.
    Stan blickt nicht auf.
    – Dabei rochst du sehr gut.
    Anna antwortet nicht. Sie geht duschen, das wird den hartnäckigen Seifenduft erklären.

STAN
    Stan ist alt. Dieser Gedanke durchbohrt ihn. Als er heute Morgen sein Gesicht im Spiegel betrachtete, erkannte er sich am Ende nicht mehr wieder. Oder war das, als Anna ging, als die Tür sich hinter ihr schloss? Zum ersten Mal dachte er, dass sie eines Tages tatsächlich nicht zurückkommen könnte. Durch das Fenster blickte er seiner Frau nach, wie sie sich entfernte, er nahm seinen Mantel und ging hinaus, er spazierte bis zum Jardin des Plantes. Er betrat das Große Gewächshaus, und da sitzt er nun, auf einer Steinbank unweit des Eingangs. Vorsichtig hat er seine Handfläche auf die Rinde des großen Feigenbaums gelegt, wie auf die faltige Handfläche eines alten Freundes, aber die Rinde blieb kalt, rau und feucht und wiederholte in der Art eines Baumes: »Du bist alt.«
    Anna hat ihn belogen. Sie hatte geglaubt, dass sie so davonkäme. Mehr nicht. Aber da war ein Leuchten in ihren Augen gewesen, das er nicht kannte, eine Art Ausflucht, die sie verriet, sie, die sie doch niemals lügen wollte. Etwas in ihrem Blick sollte an ihrer statt ein Geständnis machen, sollte an ihrer statt reden, und Stan sollte es erraten, damit sie gehen konnte, ohne sich zu schämen. Im Weggehen hatte sie ihmeinen Kuss gegeben, einen dieser routinemäßigen Küsse, mit denen sie ihn so oft bedenkt, sie hat sich umgedreht, ihm einen Augenblick lang zugewinkt. Stan hat sie nicht zurückgehalten, hat keine Geste in ihre Richtung gemacht, er hat nur darauf gelauscht, wie das Geräusch ihrer Schritte im Treppenhaus erstarb. Wegen dieses neuen Schattens war von nun an alles anders, und Stan dachte, dass seine Wimpern sich beim nächsten Mal nicht regen würden, dass Anna lügen könnte und dass es dann wirklich eine Lüge wäre, weil er ja nichts davon wüsste.
    Stan sieht zu, wie das Wasser langsam von den großen gezackten Blättern des Philodendrons tropft. Früher, als Karl und Léa noch nicht geboren waren, hatte Anna ihn am Ende seines Nachtdienstes im Krankenhaus von La Pitié abgeholt. Sie hatte eine Apfeltasche und Croissants gekauft, eine Thermoskanne mit Kaffee gefüllt, und auf dieser Bank im Großen Gewächshaus hatten sie dann gefrühstückt. Draußen wurde ein Gebäude renoviert, die Arbeiten hatten beinahe zwei Jahre gedauert, und der Lärm der Bohrer und Sägen war für

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