Kein Wort mehr ueber Liebe
er sich stets auf dünnem Eis. Anna nimmt sich das Thema so zu Herzen, dass sie manchmal jedes Unterscheidungsvermögen verliert. Einmal ist ihr ein »ihr Franzosen« herausgerutscht, was Yves schaudern ließ, umso mehr, da sie ihn wegen eines »ihr Juden« verlassen hätte. Yves rafft sich auf:
– Um es dir gleich zu gestehen, Anna, ich bin nicht unzufrieden, kein Jude zu sein. Wäre ich als Jude geboren, wäre ich Gefahr gelaufen, mich damit zufriedenzugeben. Diese Illusion, etwas zu sein, ist ja so benebelnd. Ich hätte einer dieser Jungen mit der Kippa auf dem Kopf sein können, die mit Plakaten demonstrieren gehen, auf denen steht: »Ich bin stolz, ein Jude zu sein.« Glaubst du wirklich, dass man stolz darauf sein kann, einfach nur als Jude geboren zu sein? Das ist genauso bescheuert, wie zu sagen, man sei stolz, Franzose zu sein.
– Nein. Das ist nicht dasselbe. Die jüdische Kultur ist fünftausend Jahre alt.
– Hör auf mit diesem Märchen, Anna. Es sind höchstens zweitausendachthundert. Und man ist heute nicht mehr Jude, wie man es zu Zeiten Cäsars oder des Ptolemäus war.
– Diese Jungen brauchen sich nicht zu verstecken, sie brauchen sich nicht zu schämen.
– Darum geht es nicht: Jeder, ob Jude oder nicht, kann stolz auf die jüdische Kultur sein. Jeder hat das Recht und sogar die Pflicht, es zu sein, wie er auf alles stolz sein kann, was der menschliche Geist hervorgebracht hat. Wenn ich durchdie Alhambra spaziere, bin ich stolz auf die islamische Kultur.
– Schau an! Diesen weichlichen Ökumenismus hinsichtlich der Religionen kannte ich noch gar nicht an dir.
Sie hat Recht. Yves hasst die Religiösen, die Juden nicht mehr und nicht weniger als die anderen. An den Kirchen ist immer etwas schief, wie Prévert sagte. Aber er ist gerne bereit, anzuerkennen, was das Judentum an universellen Werten transportiert. Als er den Text über die Fremden gelesen hat, hat er eine Überlegung ausgelassen, die er sich für einen anderen Text aufbewahren wollte. Jude werden heißt im Hebräischen
lehitgayer
, mit anderen Worten »zum
ger
werden«, zum Fremden werden, denn die Juden waren Fremde im alten Ägypten. Die Versuchung, zum Anderen zu werden, ist untrennbar mit der jüdischen Kultur verbunden. Anna hätte ihm zweifellos erwidert, dass er Philosophie betreibe, dass
lehitgayer
ganz einfach heiße, zum Gast zu werden, zum Gast der Juden. Aber
ger
ist im biblischen Hebräisch nicht ganz so zweideutig, er hat darüber mit einem Rabbiner diskutiert: Er ist der »Fremde«, Punkt. Ohne dieses Bewusstsein der Entwurzelung kann sich nichts Heiliges vollziehen. Wenn der Stamm der Levi nicht das Recht hatte, Land zu besitzen, dann gerade deshalb: Der Priester ist der lebendige Inbegriff dessen, der niemals ganz zu Hause ist.
Der ungläubige Yves könnte fast schon behaupten, dass man die Welt, wenn man sie wirklich denken will, wie ein Jude denken muss, wie jemand, der nirgendwo hingehörte und nichts besäße. Aber das hat er, wie er glaubt, Anna schon gesagt, und er will sich nicht wiederholen:
– Anna, ich sage ganz einfach nur, dass man, wenn mandie Illusion hat, Jude zu sein, nur weil die Mutter Jüdin ist, es schon nicht mehr ganz ist. Als Jude geboren zu sein, bedeutet nichts. Man kann nicht darüber hinwegsehen, dass man es wird.
– Noch so ein Sophismus. Ein Sophismus, der die Pogrome, die Verfolgungen, die Shoah außer Acht lässt.
– Ich lasse nichts außer Acht, Anna. Aber zu sagen, Einstein und Freud seien jüdische Gelehrte, das heißt, wie die Nazis zu räsonieren.
Indem er sich erregt, begreift Yves, dass Anna einen wunden Punkt berührt hat, dass er sich, ja, doch, wenn er sich wirklich eine mythische Abstammung auszusuchen hätte, dann vielleicht doch … Aber auch andere Optionen wären noch offen. Anna zuckt mit den Schultern. Sie will keinen Krieg:
– Und doch. Es ist nun einmal so, Freud und Einstein sind Juden. Aber das hat überhaupt nichts damit zu tun, du langweilst mich. Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.
Yves schweigt. Es erstaunt ihn, wie deutlich er gewesen ist. Früher, wenn die Spannung zu groß wurde, hatte sich sein Geist unter dem Ansturm parasitärer Bilder verheddert. Im Alter von fünfzehn Jahren verlor er bei Familienstreitigkeiten den Faden, weil plötzlich die absurde Vision einer eierlegenden Schildkröte von den Galapagosinseln vor ihm auftauchte. Es wurde ihm unmöglich, weiter zu argumentieren, auch wenn er noch so Recht haben konnte. Er
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