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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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weint. Louise versucht, ihre kleine Tochter zu beruhigen, aber Judith ist vor Angst wie versteinert, sie zittert. Die Räder haben den Kinderwagen mitgerissen, die Reifen haben gequietscht, aber Judith ist nichts passiert. Etwas weiter ist der Lieferwagen zum Stehen gekommen, der Puppenwagen liegt zermalmt unter der Achse, die Puppe ist auf die Straße geflogen. Der Fahrer, ein großer Schwarzer, ist herausgesprungen, kniet vor Judith und fragt sie unaufhörlich: »Ist dir nichts passiert? Ist dir nichts passiert?« Er zittert noch mehr als sie.
    Es ist ein Sonntag im Dezember, der erste, den Louise in Thomas’ Begleitung mit Judith und Maud verbringt: Die beiden hatten ihn noch nie zuvor gesehen. Maud hatte herausgefunden, dass, wenn man ganz oft hintereinander Thomas Thomas sagt, es sich anhört wie »ma tomato ma tomato«. Judith fand, der Freund ihrer Mutter habe wirklich sehr viele graue Haare, mehr als Papa, das hatte sie ihrer großen Schwester kichernd ins Ohr geflüstert, damit ihre Mutter nichts davon hörte.
    – Was ist das da für ein Getuschel, Judith?, hatte Louise gefragt.
    Judith war lachend losgerannt, sie hatte sich gerade in dem Moment zu ihrer Schwester umgedreht, als sie auf die Straße trat. Thomas hatte die Gefahr erkannt. Er hatte den Arm ausgestreckt, das Mädchen geschnappt und brutal nach hinten gezogen. Er entschuldigt sich bei ihr, dass er sie so fest am Arm gepackt hat. Er hat ihr wehgetan, sie schimpft mit ihm. Sie wird einen blauen Fleck kriegen. Der Fahrer hat die Puppe geholt, den Puppenwagen befreit, der völlig aus der Form geraten und nicht mehr zu reparieren ist:
    – Wie heißt du denn, mein Spatz? Ich kaufe dir einen Neuen.
    Thomas bringt ihn davon ab, begleitet ihn zurück zum Lieferwagen.
    Sie waren auf dem Weg zum Naturkundemuseum im Jardin des Plantes gewesen. Louise ist völlig erschöpft, sie will sich nur hinsetzen, einen Kaffee trinken. Thomas fragt die Mädchen, was sie möchten: heiße Schokolade. Gute Idee. Viermal heiße Schokolade.
    – Thomas hat dir das Leben gerettet, sagt Maud zu ihrer Schwester.
    Ganz entzückt von den ungeheuren Worten, die sie gesprochen hat, wiederholt Maud:
    – Thomas hat dir das Leben gerettet.
    – Was bedeutet das, Mama, das Leben retten?, fragt Judith ihre Mutter.
    Louise antwortet nicht. Sie schließt ihre Tochter fest in die Arme, erdrückt sie fast. Sie blickt auf zu Thomas, schließt die Augen wieder, eine Träne glitzert unter ihren Lidern.
    Langsam trinkt Thomas seine Schokolade. Judith und Maud spielen mit den Löffeln und dem Kakao in den Tassen.Für eine Weile ist die Angst vergessen. Aber Louise fährt der Schrecken immer tiefer in die Glieder. Er kann ihre Gedanken lesen, die sich mit den seinen überschneiden. Und wenn Judith umgekommen wäre? Dann hätte sie ihn ganz sicher verlassen. Der Schmerz tötet jedes Verlangen, keine Liebe übersteht ein solches Schuldgefühl. Nur mit Judiths Vater hätte sie dieses geteilte Leid aushalten können, nur mit ihm hätte sie versuchen wollen, es zu überwinden.
    – Danke, sagt Louise schließlich.
    Thomas schüttelt den Kopf. Er sieht in diesen wenigen Minuten seines Lebens eine Weichenstellung des Schicksals. Anna hatte dieses Wort bei ihrer letzten Sitzung benutzt und gesagt: »Ich weiß nicht, ob Yves mein Schicksal ist.« In Annas Mund ist das Wort zweideutig, einerseits die Freiheit der Wahl, andererseits die Unausweichlichkeit des Schicksals.
    Thomas glaubt nicht an die Unausweichlichkeit des Schicksals. Er will, dass die Kraft des Wortes und der Tat die Existenz gestalten. Das ist für ihn auch der Sinn der Psychoanalyse, sie soll dem Patienten die Kraft geben, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er will daran glauben, dass, wenn der Unfall eben wirklich passiert wäre, er dennoch einen angemessenen Platz eingenommen hätte, dass er zu einem jener Menschen geworden wäre, auf die Louise sich gestützt hätte.
    Als Jugendlicher hatte er endlos über die Dehnbarkeit von Schicksal und Geschichte debattiert, der Historie mit ihrem, wie Perec gesagt hatte, großen H – wie Hackebeil. Der marxistische Grünschnabel war gegen die hegelianischen Lehrjungen angetreten. Wäre Hitler 1931 bei einem Autounfall gestorben, hätte das Trägheitsmoment der wirkenden Kräfte dennoch den Krieg und die Shoah zur Folge gehabt? Wäre einStalinismus mit einem anderen Stalin vorstellbar gewesen? Wer hätte Trotzki ersetzen können?
    Andere Fragen schweben im Raum. Welche Rolle spielte er in

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