Kein Wort mehr ueber Liebe
brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass seine Blödigkeit ein Symptom war, dass sie von seiner Unfähigkeit herrührte, sich ganz in Front zu bringen.
– Anna, ich werde dir noch einen letzten Grund nennen,warum ich froh bin, es nicht zu sein. Ich bin nicht sicher, ob unsere Geschichte ein Existenzrecht gehabt hätte, wenn ich Jude wäre.
Anna antwortet nichts. Sie erinnert sich, dass Le Gall sie während einer Sitzung, in der sie erzählt hatte, dass Yves ein Goj sei, gefragt hatte:
– Hätten Sie sich in einen Juden verlieben können?
Das hatte ihr die Sprache verschlagen. Aber Le Gall hatte die richtige Frage gestellt. Dass Yves ein Goj war, machte alles leichter. Sich zu einem anderen Juden ins Bett zu legen, wäre obszön gewesen, ein Verrat an der in der Synagoge geheiligten Verbindung. Yves kam aus einer anderen Welt, einer Parallelwelt, einer exotischen Welt. Sein Universum berührte sich so wenig mit dem ihren, dass es sich kaum um einen Kratzer am Ehevertrag handelte.
LOUISE UND ROMAIN
Der australische Leierschwanz, den man auch Prachtleierschwanz nennt, kann alle Laute imitieren, vom Dieselmotor bis zum Presslufthammer. An diesem Nachmittag würde ein Dutzend dieser Prachtleierschwänze ausreichen, den Lärm von Paris nachzumachen.
Louise fühlt sich leicht, beschwingt, verliebt. Wenn sie Romain verlässt, dann wegen dieser wiedergewonnenen Leichtigkeit. Der Himmel ist von einem endlosen Grau. So kann er gleichzeitig die Sonne und die Form der Wolken verdecken. Louise wünschte sich einen helleren Himmel, ein argentinisches Blau. Vor fünf Jahren ist Louise nach Buenos Aires gereist. Für immer wird sie der Name an das Blau des Himmels erinnern, von dem sich messerscharf die Hochhäuser absetzen.
Auf den Ladenschildern steht
Alte Bäckerei
,
Lotto Presse
,
Landwirtschaftsbank
. Das mitten in die Stadt verirrte Wort »Landwirtschaft« erscheint ihr nicht abwegig. Das Adjektiv abwegig hat Louise immer schon gemocht, denn es ist selbst abwegig. An der Bushaltestelle hängt ein Werbeplakat für einen amerikanischen Film mit Nicole Kidman, ein anderes Transparent wirbt für eine deutsche Limousine. Das Transparentdreht sich, und es erscheint ein koreanisches Handy. Louise durchquert Paris, um Romain zu verlassen, und doch schaut sie sich die Werbung an. Sie tankt Energie aus dem Licht des Himmels, dem Geflirre der Blätter, der Bewegung der Äste. Sie betrachtet die Aushänge, die Arbeiter, die den Asphalt aufbrechen, die Boutiquen, die Kleider und die Stiefeletten. Sie wird Romain verlassen, und doch betrachtet sie die Kleider, die Stiefeletten.
Sie hat sich geschminkt und dieses schwarze Kleid angezogen, von dem sie sehr genau weiß, dass es ihr gut steht. Sie hat dieses nach Efeu und Sandelholz duftende Parfüm aufgelegt, das Romain ihr zum Geburtstag geschenkt hat, dieses zu holzige, für sie zu gekünstelte Parfüm. Sie weiß nicht, warum sie so lange gebraucht hat, um sich fertig zu machen, wo doch der eigentliche Takt darin bestanden hätte, sich so wenig hübsch wie möglich zu machen, so wenig wie möglich gefallen zu wollen. Sie fragt sich, ob sie für ihn oder für sich so viel Aufwand getrieben hat.
Sie weiß, dass manche Männer auf den Café-Terrassen ihr in diesem Augenblick, da sie den Boulevard Saint-Germain hinaufgeht, nachschauen. Vielleicht ruht auf jeder Frau, die durch Paris geht, zu jedem Zeitpunkt der Blick eines Mannes.
Sie ist aufgebrochen, um Romain zu verlassen. Sie wird den Mut haben, ihm zu sagen, dass sie ihn schon seit langer Zeit verlassen hat. Sie wandert durch Paris, um ihm deutlich zu machen, dass der Faden zwischen ihnen gerissen ist, dass die Kinder sie an ihn binden, aber dass das nicht ausreichen kann. Sie sieht sich schon nicht mehr an seiner Seite. Das Glück, das sie gestern noch empfand, als sie an seinem Arm ging, hat sie vergessen.
Im Geiste hat Louise zuerst Listen angelegt, Spalten aneinandergereiht. So hat sie ein Raster aufgebaut, das so rational ist wie die Häuserblocks einer amerikanischen Stadt. Eine Spalte
Pro
, Gründe, Romain zu verlassen
.
Eine Spalte
Kontra.
»Ich liebe dich noch«, in die Spalte
Kontra.
Oder vielmehr, sie liebt noch immer den Gedanken, ihn geliebt zu haben, das ist so wie der süße Nachgeschmack eines Kaffees. »Ich liebe dich nicht mehr«, in die Spalte
Pro.
Oder vielmehr, sie liebt ihn nicht mehr so, wie sie ihn lieben müsste, um ihn weiterhin lieben zu können.
In die Zeilen hätte sie nacheinander eintragen
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