Kein zurueck mehr
geraten.«
»Wovon redest du?«
Nachdem sie die Sache aus dem Buchladen gepetzt hat, sagt sie: »Er wird deine Hilfe brauchen.«
Schweigen.
»Also, ich erkenn dich gar nicht wieder … warum willst du ihn nicht bleiben lassen?«
Schweigen.
»Hat euer Vater angefangen ihn zu schlagen, bevor oder nachdem du abgehauen warst?«
Hat er dir das erzählt?
»Hat er dir das erzählt?«
»Glaubst du nicht, ich habe genug misshandelte Kinder gesehen, um mir das zusammenzureimen? Er taucht hier in dem Zustand auf und will plötzlich bei dir leben?«
»Was auch immer ihn hierhergebracht hat, ist seine Angelegenheit. Selbst wenn er es mir erzählt hätte, würde ich es für mich behalten.«
Tja, so sieht es aus, meine Liebe. Brüder halten zusammen.
»Na gut«, sagt Mirriam, »und was willst du jetzt machen? Dich von jetzt an hier verstecken?«
Ich höre die Sprungfedern zum zweiten Mal quietschen; er setzt sich neben sie aufs Bett. »Ich weiß, dass er mein Bruder ist, dass ich für ihn verantwortlich bin. Ich weiß nur nicht, wie ich mit ihm unter einem Dach leben soll und nicht …«
»Nicht was?«
»Ich habe das hinter mir gelassen. Verstehst du? Wenn ich das jetzt alles wieder hervorhole, wird das kein schöner Anblick«, sagt er.
»Das glaube ich. Warum bist du abgehauen?«
Jetzt geht’s los. Ich presse meine Schulter an die Wand. Ich weiß, wie so ein Streit abläuft.
»Ich hab dir doch erzählt, warum. Ich bin mit meinem Dad nicht klargekommen«, sagt Christian.
»Wie wäre es, wenn du mir diesmal die ganze Geschichte erzählst? Du bist abgehauen, weil dein Vater dich geschlagen hat, stimmt’s?«
Lektion Nr. 1 : Beginne mit einer Fangfrage.
Nach einer Pause sagt Mirriam: »Das ist das, was ich meine. Vielleicht hätten wir das schon längst hervorholen sollen.«
»Welchen Unterschied macht das jetzt noch? Oder glaubst du, das ist alles, was mich ausmacht? Nicht New York, nicht das Laufen, nicht das Medizinstudium.«
Ich fange an, an dem blauen Ärmel herumzuzupfen.
»Aber das ist genau das, was ich meine, Christian. Deine Entscheidung, Medizin zu studieren, sehe ich jetzt in einem anderen Licht. Genauso wie deine Idee, in die Wohnung neben mir einzuziehen, um deinen eigenen Freiraum zu behalten.«
»Siehst du, genau deshalb habe ich nichts gesagt. Jetzt glaubst du, alles in meinem Leben hat mit meinem Vater zu tun, als wäre das alles, was mich ausmacht«, sagt Christian und seine Stimme überschlägt sich fast.
Lektion Nr. 2 : Fang nicht als Erstes an zu keifen oder du bist gleich im Unrecht.
»Nicht alles , was dich ausmacht, aber doch ein wichtiger Teil, ein entscheidender sogar«, sagt Mirriam hastig und ebenfalls lauter.
»Nein«, brüllt er. »So wichtig ist es nicht. Aber ich glaube kaum, dass du verstehst –«
»Ach, jetzt bin ich also zu blöd, um –«
»Es ist nur wichtig, wenn ich es zulasse. Ich denke nicht mehr daran. Es ist für mich gegessen.«
»Klar, rede dir das nur ein, während du deinen eigenen Bruder in die Gosse stößt.«
Lektion Nr. 3 : Ein Streit folgt immer einem Rhythmus. Die Worte werden immer stürmischer, bis sie einander übertönen – schneller, lauter. Ich rechne damit, dass Christian jetzt anfangen wird zu fluchen, Mirriam zu beschimpfen. Ich warte, aber stattdessen höre ich nur Schweigen. Was zum Teufel hat dieses Schweigen zu bedeuten?
»Na gut. Vielleicht hätte ich dir davon erzählen sollen«, sagt Christian mit ruhiger Stimme.
»Du hättest nicht lügen sollen.«
Ich zerre an dem blauen Ärmel und ein weißer Faden hängt herab. Ich fange an, daran zu ziehen.
»Ich habe nicht gelogen. Ich habe es nur nicht erwähnt.«
»Lassen wir diese Wortklauberei, okay? Du hast die Sache bewusst vertuscht. Und du hast dir alle Mühe dabei gegeben. Ein »Ach, das hab ich ganz vergessen« ist ein bloßes Versäumnis, aber wenn man jemanden dazu verleitet, etwas Falsches zu glauben, ist das eine Lüge. Ich will ehrlich zu dir sein. Ich weiß nicht, ob ich mit jemandem zusammen sein kann, der mich anlügt.«
Es folgt eine lange Pause. Das Bett knarrt wieder und Christians Stimme klingt näher, als er sagt: »Okay.«
»Moment mal, so einfach willst du uns auseinandergehen lassen?«, fragt sie.
»Du bist diejenige, die das entscheidet, Mirriam. Ich werde nicht hier stehen und dich überreden. Ich würde nie versuchen, eine Frau davon abzubringen, mich zu verlassen.«
Ich halte den Atem an. Das ist das Erste, was wir gemeinsam haben. Unbestreitbar
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