Kein zurueck mehr
Wollen-wir-doch-mal-sehen-was-für-ein-Arschloch-du-bist-Weise in die Hüften gestemmt, starrt sie mich mit einem Blick an, der zu sagen scheint: armer Christian – da taucht sein krimineller Bruder auf und ruiniert sein Leben. Ich kneife meine Augen zu einem Schlitz zusammen und funkele sie an. Die Inquisitorin hat meinen Gesichtsausdruck bemerkt, stutzt und folgt meinem Blick zu Mirriam.
»Seid ihr jetzt fertig, ihr beiden? Ich würde gerne gehen«, ruft Mirriam von der Kasse aus.
Das Mädchen wendet sich wieder zu mir. Meine Hände verharren noch immer in der Luft, mein telepathisches Gehirn fleht um Hilfe – Gott, Krishna, Zeus, irgendjemand muss jetzt doch eingreifen. Sie lässt ihre Arme sinken, als hätte sie nie einen Angriff im Sinn gehabt, verzieht das Gesicht und murmelt: bla, bla, bla . Sie hat den gemeinsamen Feind erkannt: zickige Erwachsene, die einen ständig herumkommandieren.
Ich atme auf und ziehe den Bund meiner Shorts ein Stück höher.
»Vielleicht hat die Dame eine bessere Wirkungsstätte gefunden.« Ihre vollen Lippen öffnen und schließen sich, als sie ein Lächeln unterdrückt. »Ich will dir nur noch dieses eine Buch empfehlen. Für nächstes Mal, meine ich.«
Sie nimmt ein Buch aus dem Regal hinter mir und reicht es mir. Auf dem Cover ist ein Finger zu sehen, der eine Reihe Dominosteine umwirft. Die Bücherdiebin .
Ich sollte jetzt wahrscheinlich ganz entrüstet tun, aber ich lache. Warum sollte ich mich verstellen? Sie wird mich nicht verpfeifen.
»Ich habe tatsächlich nichts zu lesen im Moment«, sage ich. »Bin gerade umgezogen. Aber wenn es dir nichts ausmacht, …?«
»Dakota.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, Dakota, fange ich mit dem hier an.« Ich greife nach Blumen für Algernon , doch dann fällt mir ein, dass ich pleite bin, und ich lasse das Buch im Regal stehen.
»Ich dachte, du würdest dich vielleicht darin wiedererkennen.« Sie zieht kurz die Nase kraus und stellt Die Bücherdiebin zurück.
»Ich erkenne mich eher in Algernon wieder.«
»Die Labormaus, mit der diese ganzen Experimente gemacht werden?«
Ich werfe einen Blick zu Mirriam, presse meinen Zeigefinger auf die Lippen und flüstere in bester Elmer-Fudd-Manier: »Shhhhhh. Ich werde getestet.«
Mirriam lehnt am Tresen und wippt mit den Fußspitzen. Sie stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Oh, tut mir leid, Sie warten zu lassen«, ruft Dakota in Mirriams Richtung. »Wir haben nicht genug Personal – könnten noch eine Aushilfe brauchen.« Sie beugt sich zu mir herüber und mir steigt wieder dieser Zimt-Regen-Duft in die Nase, während sie flüstert: »Sieh zu, dass du zurückkommst, okay? Ich könnte es nicht ertragen, so ein prächtiges Schachspiel aufzulösen.«
Ach, tatsächlich? Alles löst sich auf. Das nennt sich Entropie .
Dakota geht hinüber zum Tresen und beginnt, die Barcodes von Mirriams Büchern einzuscannen. Ich beobachte, wie sie sich bewegt, wie sie jedes Buch in die Hand nimmt, umdreht und über das Barcodelesegerät gleiten lässt, die Augen auf ihre Arbeit gerichtet.
Ich beginne meine Tasche wieder einzuräumen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie tatsächlich hübsch ist oder es mir nur im Moment so vorkommt, weil sie mir den Arsch gerettet hat. Aber das muss ich ja nicht jetzt entscheiden. Ich nehme die Kappe ab, wähle den Ausschnitt und stelle die Blende ein. Die Aufnahme wirkt langweilig, also warte ich auf ein Blitzen in ihren Augen oder eine Bewegung ihres Kopfes – irgendetwas. Sie greift nach einer Tüte unter dem Ladentisch, und als sie wieder auftaucht, wehen ihre Haare, ihre Lippen formen sich beim Reden zu einem Kussmund – und ich drücke ab.
Kapitel 5
Nachdem wir zurück sind und ich geduscht habe, gehe ich in Christians Zimmer. Ich hoffe, dass es ihm nichts ausmacht, wenn ich mir ein paar saubere Klamotten leihe. In meinen Jeans steckt der Staub von vier Staaten, in meinen Shorts der Schweiß eines spontanen Worldcup-Finales.
In einem großen Holzwürfel, der gleichzeitig als Nachttisch dient, liegt ein Stapel Zeitschriften: New England Journal of Medicine . Die Wände sind nackt: keine Bilderrahmen, keine Postkarten, die hinter dem Spiegel stecken, nichts. Sein Schreibtisch ist nur mit praktischen Dingen dekoriert: einer leeren Geldscheinklammer, einem Glas mit Kleingeld, das überwiegend Silbermünzen enthält, und einem Taschenmesser. Wer lebt denn so?
Ich finde eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit Heißluftballons drauf, das den Schriftzug DUKE CITY
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