Keine Angst vor Anakondas
sieht, wie der Elefant einen Fuß auf die Kamera setzen will, um an ihr seinen Ärger über die Eindringlinge auszulassen. Da aber kennt er Bernhard Grzimek schlecht. Eine zerstörte Kamera hätte nicht nur den Verlust eines wichtigen Aufnahmegerätes für diese Filmexpedition bedeutet. Professionelle Filmkameras sind, wie gesagt, ein Vermögen wert und würden den Tierliebhaber, der damals seine Expeditionen privat finanzierte, in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten bringen.
Bernhard Grzimek stürmt also auf den Elefanten zu und schwenkt wild seinen Hut in der Luft. Was nach Festzelt auf dem Oktoberfest anmutet, ist bitterer Ernst. Er ist nicht nur der liebe, schrullige Fernsehonkel, der die Tiere präsentiert und für den Schutz von Tier und Lebensraum eintritt. Nein, Grzimek ist auch ein Mensch mit starkem Willen, geschicktem Durchsetzungsvermögen. Als Anwalt der Tiere ist er ein gewiefter Taktiker. Und von einem Elefanten lässt er sich ganz sicher nicht seine gute Kamera zertrümmern! Tatsächlich gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des Elefanten auf sich zu lenken und die Kamera zu retten. Nun ist es an ihm, schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen und einen Sprint einzulegen. Er trägt, wie immer, nur Sandalen, die nicht geeignet sind zum schnellen Laufen. Doch Bernhard Grzimek schafft es, sich aus der Reichweite des aufgeregten Dickhäuters zu entfernen.
So unterhaltsam diese Geschichte mit dem Elefanten im Nachhinein klingt: Diese spontane und schlichtweg leichtsinnige Rettung der Kamera hätte böse Folgen haben können. Andere Menschen hatten da weniger Glück. Tragischerweise ist später ausgerechnet Götz-Dieter Plages Frau bei Filmaufnahmen durch einen Elefanten ums Leben gekommen, der das Auto umgekippt hat, in dem sie sich befand. Er selber erlag später bei Drehaufnahmen den Verletzungen durch einen Absturz mit einem Leichtflugzeug.
Ich sehe Jörg an, dass er darauf brennt, eine weitere Geschichte zum Besten zu geben: »Im Weg zu stehen ist immer eine dumme Sache, wirklich blöd. Das kann dir mit einem Elefanten selbst in der Antarktis passieren.« Jörg legt eine kurze Kunstpause ein, um Spannung zu erzeugen.
Ich denke, er ist manchmal ganz schön sprunghaft. »Ok, Elefanten in der Antarktis«, sage ich betont gedehnt …
Die Speckschwarten-Tangente – Mirounga leonina
Knirschende, schleifende Geräusche schrecken Andreas Schulze auf. Er dreht sich um. »Ach du Sch…!«, denkt er und wird kreidebleich. Ein riesiger Seeelefant robbt auf ihn zu. Vor ihm liegt die gesamte Filmausrüstung. Möwen fliegen kreischend auf. Der Bulle ist nur auf dem Weg zum Ozean. Vielleicht sinnt der gerade darüber nach, welche Fische er jagen will. Er kann bis zu 1 000 Meter tief tauchen und hat daher eine große Auswahl an Beute. Zielstrebig, wie er ist, nimmt er den kürzesten Weg – direkt auf den erschrockenen Andreas Schulze zu.
Es ist nichts Ungewöhnliches daran, dass ein Tier, wenn es von A nach B will, den direkten, kürzesten Weg einschlägt. Umgehungsstraßen sind im Genpool der Tiere nicht existent. Wenn also der Seeelefant ins Meer will, dann robbt er nicht im Halbkreis oder in Winkelzügen. Und von einem Zweibeiner lässt er sich schon gar nicht vom Weg abbringen. Der Seeelefant ist hungrig, will fressen oder sich einfach nur im nassen Element wohlfühlen. In seinen Gedanken ist eine Tangente festgezurrt, eine gerade Strecke zum Meer. Dies ist so unausweichlich wie die ewige mathematische Funktion beim Billard: Der Einfallswinkel ist gleich dem Ausfallswinkel.
Seeelefanten gehören zu den Raubtieren der Ordnung Carnivora, was auf Deutsch »Fleischfresser« bedeutet. Sie sind nicht nur die größten Robben, sie sind die Größten ihrer Ordnung. Männchen können bis zu 3,5 Tonnen wiegen und werden viel größer als etwa ein Löwe oder ein Eisbär. Andreas Schulze wiegt nicht einmal ein Zehntel einer Tonne und hat das Problem der erheblich kleineren Masse. Und er weiß, dass mit diesen Tieren nicht gut Kirschen essen ist, wenn die sauer werden. Andreas Schulze filmt am liebsten Vögel und hat beruflich mit Raubtiergebissen wenig zu tun. Verzweifelt stellt er sich vor die Taschen mit dem Equipment und schreit lauthals: »He da, verschwinde, weg von hier!« Schulze besitzt noch einen Joker, den gleichen, den auch Bernhard Grzimek ausgespielt hat. Er hat etwas, das Seeelefanten nicht besitzen: lange, frei bewegliche Vorderextremitäten. Als er mit diesen vor dem Seeelefanten wild durch die Luft
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