Keine Angst vor Anakondas
heißt, dass sie höchstens dann angreifen, wenn nicht genug Nahrung für sie verfügbar ist. Blutend würde ich allerdings nie ins Wasser gehen. Blut zieht sie magisch an, so wie uns der Duft einer Weihnachtsgans.«
»Nur gut, dass uns die Piranhas schmecken und wir nicht auf deren Speisekarte stehen«, witzelt Jörg.
»Das stimmt auch wieder nicht ganz: Einer unserer Indianer hat mir erzählt, dass einer seiner Bekannten mal einen Fisch im Wasser putzte. Da hat ihm ein Piranha ein Fingerglied abgebissen.«
»Wieso das denn? Weißt du was, die kleinen Monster sind Haien verdammt ähnlich. Wenigstens gibt es keine Haie im Süßwasser. Wirklich beruhigend.« Mit dem Ausatmen zischt ein leiser Ton der Erleichterung aus Jörgs Kehle.
»Die Piranhas waren angesichts des Fischblutes in einen regelrechten Rauschzustand geraten. Dann beißen die in alles, was sich bewegt. Übrigens muss ich dich leider enttäuschen«, ärgere ich ihn absichtlich, »es gibt Haie, die weit die Flüsse hinaufschwimmen. Und – gar nicht weit weg von hier in Nicaragua leben richtige Süßwasserhaie in einem großen Binnensee.«
Wieder setzt Stille ein, dann summe ich die Melodie aus dem Film Der Weiße Hai vor mich hin. Jener Film, der in den Siebzigern zu einer kollektiven Psychose geführt hatte. Damals griff eine irrationale Angst vor Haien um sich. Erneut, dieses Mal lauter, lasse ich das Stakkato ertönen, das im Film immer dann einsetzt, wenn der böse Weiße Hai aus den tiefen dunklen Weiten auftaucht, um über ahnungslose Menschen herzufallen.
Ankunft der Könige
»Wale!«, schallt es über das Schiff Elie Monnier vor den Kapverdischen Inseln. Der französische Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau und der Tauchpionier Frédéric Dumas eilen zum Kapitän. Der hat längst das Schiff gewendet, als die Meeresforscher die Brücke betreten, und hält auf die Wale zu. Frédéric Dumas läuft weiter zur Harpunenplattform am Bug des Schiffes; er will einen Wal zu Forschungszwecken harpunieren und aufs Schiff ziehen. Dumas nimmt die Harpune in die Hand und macht sich bereit für einen Wurf. Auch für Jacques-Yves Cousteau sind die Wale begehrte Forschungs- und Filmobjekte. Einen erlegten Grindwal betrachtet er als Köder zum Anlocken von Haien, eine gute Gelegenheit, um spannende Filmaufnahmen zu bekommen. Beide gehen getreu dem Motto vor: Mal sehen, was passiert. Gespannt beobachtet die Crew, wo die Wale vor ihnen auftauchen oder ob sie die Gefahr erkennen und in unerreichbare Tiefe verschwinden.
Das waren damals noch andere Zeiten. Die Wale wurden auf allen Weltmeeren gejagt. Über mehrere Jahrzehnte fielen pro Jahr um die 40 000 Tiere der schonungslosen Jagd zum Opfer. Heute wird kommerzieller Walfang nur noch von Island und Norwegen sowie Japan unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft betrieben. Aus unserer heutigen Sicht stellt es eine Grausamkeit dar, einen Wal zu harpunieren, auch, wenn es im Namen der Wissenschaft geschieht.
Jacques-Yves Cousteau begeisterte das Meer. In der französischen Marine hatte er es bis zum Korvettenkapitän gebracht. 1946 half er dabei, den von Hans Hass entworfenen Atemregler, den der Deutsche »Aqualunge« nannte, zu verbessern. 1950 baute der Franzose auf Kosten der Biermarke Guinness das ausgemusterte Minensuchboot Calypso zum Forschungsschiff um. Doch unter Wasser gefilmt hatte er schon viel früher. Bereits 1942 entwickelte er ein wasserdichtes Gehäuse für Filmkameras und drehte damit seinen ersten Film. Über 100 weitere Dokumentationen und mehrere Bücher sollten folgen. Über Jahrzehnte verfolgten die Fernsehzuschauer seine Abenteuer auf den Meeren der Welt …
Schwerelos, mit vollendeter Geschmeidigkeit schwebt nun ein Weißspitzen-Hochseehai heran. Die Sinne des Fisches haben Schallwellen wahrgenommen, die ihn neugierig werden lassen. Sie verraten ihm, dass sich ein großes Wassertier in höchster Not windet. Das klingt für ihn nach einem gefundenen Fressen. Schon seit Tagen knurrt ihm der Magen. Seine Schwanzflossen geben Schub – in die Richtung, die ihm eine große Beute verspricht. Er wird sich einreihen in die Riege der Jäger und seine Portion abbekommen. So kennt er es, so wird es wieder geschehen.
Zwei Kilometer weiter haben auch zwei andere Haie die untrüglichen Schwingungen wahrgenommen, die nur von einem verwundeten Tier stammen können. Es sind zwei Blauhaie, die durch die Weite des Meeres pflügen. Auch sie gehören zu den Hochseehaien, die in der Regel zwischen drei und
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