Keine Angst vor Anakondas
aufgebaut, alles eingerichtet, der Bewegungsmelder aktiviert. Ihr Blick ist auf einen idyllisch anmutenden See gerichtet, in dessen Umgebung Antti schon öfter einen Rüden beobachtet hat. Irgendwann gibt es nichts mehr zu tun, nichts mehr zu besprechen. Sie sind bereit für die Vielfraße. Alles haben sie perfekt organisiert. Nun kann das Phantom des Nordens kommen und enttarnt werden. Sie sitzen und warten, bereit für den Einsatz. Ihre Blicke durchstreifen vermittels der Sehschlitze das Gelände auf der Suche nach einer Bewegung, nach braunem Fell auf hohen Marderbeinen. Leise lauern sie voll konzentriert, bis die Anspannung nachlässt und die Müdigkeit einsetzt. Im Sommer sind die Tage sehr lang. Es gibt Wochen, in denen sie fast »durchdrehen«, weil selbst in tiefster Nacht noch die Dämmerung Licht streut. Durchdrehen könnten sie aber auch, wenn sie stundenlang in der Box sitzen und sich draußen absolut nichts bewegt. Es ist ihnen nicht möglich, die Box zu verlassen, jeden Moment kann ja ein Vielfraß oder ein anderes begehrtes Filmobjekt auftauchen. Jeder Angler kennt dieses Gefühl: Man will einpacken, doch die Hoffnung auf einen kapitalen Fang stirbt zuletzt.
Alles Warten findet irgendwann ein Ende. Sie entdecken einen Vielfraß. Jetzt sind sie in ihrem Element. Ivo schwenkt die Kamera mit, fängt den Marder ein, wie er auf einem in den See gestürzten Baum entlangläuft. Dann zoomt er, holt ihn heran. Er schießt atemberaubende Bilder von einem vollkommen frei lebenden Vielfraß. Die Einzelheiten seines Aussehens sind so scharf zu erkennen wie die Schnurrhaare einer zu Hause neben uns auf dem Sofa liegenden Katze. Fantastisch! Sie sind berauscht von diesen Momenten. Sie haben diesen Zugang zu bislang noch nie gefilmten und ungeahnten Verhaltensweisen aus dem Leben der Riesenmarder Antti Leinonen zu verdanken, und das wissen sie zu würdigen.
Mit nur einem Dampfer begnügen sich Ivo und Oliver nicht. Ihre Flotte umfasst gleich fünf verschiedene Verstecke, die sie ab und zu an günstigere Plätze versetzen. Dann befestigen sie die ca. 80 Kilo schweren Boxen an zwei Holzstangen und tragen sie wie eine Sänfte durch das Gelände. Es bedarf einer enormen Portion Zähigkeit und Ausdauer, um den Vielfraßen so dicht auf den Pelz zu rücken. Eine Kameraausrüstung von 40 Kilogramm durch die Landschaft zu buckeln gehört zum Alltagsgeschäft für einen Tierfilmer. Einen toten Elch von ein paar 100 Kilogramm, der als Köder dient, durchs Gelände zu ziehen ist echte Schwerstarbeit. Kein Wunder, dass Bandscheibenvorfälle bei Tierfilmern keine Seltenheit sind. Doch für ihre verwegenen Vielfraße mit ihrer mystischen Ausstrahlung ist Oliver und Ivo keine Arbeit zu schwer.
Die Walddampfer stellen sich als geniale Erfindung des Finnen heraus. Die Vielfraße stören sich nicht weiter an den Boxen. Im Gegenteil, sie kommen sogar bis auf wenige Meter heran, wenn sie sich an die Boxen gewöhnt haben. Den beiden Tierfilmern gelingt eine weitere kleine Sensation: Sie filmen zum ersten Mal einen wilden Vielfraß, der schwimmt. Besonders spannend wird es, wenn die Vielfraße Begegnungen mit anderen Tieren der finnischen Wälder haben. Hätten Sie es für möglich gehalten, dass es eine Zusammenarbeit von Kolkrabe und Vielfraß gibt? Ein Kolkrabe krächzt auffällig laut in der Nähe eines Vielfraßes, flattert herum, weist dem Marder den Weg zu einem Kadaver. Die Kamera läuft. Der Rabe hofft darauf, so besser an kleine Stücke des zerteilten Kadavers heranzukommen. Der Marder betätigt sich wie gewollt als Dosenöffner, denkt jedoch gar nicht daran, mit dem Raben zu teilen. Er zerkleinert zwar den Kadaver in Stücke, versteckt sie aber dann und versucht den Raben zu vertreiben. Der bleibt jedoch, flattert höchstens ein paar Meter zur Seite. Seine Zeit wird kommen, er weiß, es bleibt genug für ihn übrig.
Dämonische Nesthäkchen
Um den Vielfraß ranken sich viele Mythen. In einer Erzählung nordamerikanischer Indianer ist der Vielfraß das schwächste von vier Bärenjungen, das wie ein Nesthäkchen einfach nicht so recht wachsen will. Manche Indianer verehren den Marder als Gottheit, andere bekämpfen ihn als Dämonen oder – und das kommt der Realität schon sehr viel näher – als Rentierkiller.
Und dann wären da noch die vielen Geschichten und Legenden, die nicht alle so ganz der Wahrheit entsprechen. Den Bärenmardern wird nachgesagt, dass sie unsichtbar sind. Kein Wunder, so verborgen wie sie leben. Das
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