Keine Angst vor Anakondas
zu tun. Der Begriff Vielfraß ist älter und länger in Gebrauch als der Begriff »Fjellfräs«. Folglich kann es sich nicht um eine falsche Übersetzung handeln. Bei dieser Gelegenheit muss noch klargestellt werden, dass die Vielfraße nicht zu der Gruppe der katzenartigen Raubtiere gehören. Mit bis zu einem Meter Körperlänge sind sie die größten Marder. Und wenn sie satt sind, verstecken sie eben Teile der Beute in Höhlen oder schleppen sie auf Bäume. Ideale Voraussetzungen, um zu einem mystischen Waldwesen zu werden.
Der Rentierkeulenbaum
Ivo, Oliver und Antti sind begeistert. Sie sehen eine angefressene Rentierkeule oben auf einem schrägen Baum. Antti hat schon öfter Rentierkeulen in Bäumen entdeckt, die von Vielfraßen deponiert worden waren. Höchst erstaunt war selbst er, als er sogar Rentierköpfe mit Geweih hoch oben in den Zweigen gefunden hat. Ivo und Oliver wollen den Vielfraß drehen, wenn der die versteckte Beute abholt. Was für eine Gelegenheit, darauf haben sie nicht einmal zu hoffen gewagt! Antti weiß, wie es klappen könnte. Sie schrauben einen Metallkasten oberhalb der stinkenden Renkeule an den Baum und verstecken ihre kleine, ferngesteuerte Filmkamera darin. Aber wird der Vielfraß das akzeptieren? Im nahen Dampferversteck richten sich Antti und die beiden Tierfilmer ein. Sitzen und warten, geduldig und leise. So vergehen die Stunden – wieder einmal. Aus Stunden werden Tage. Plötzlich geht der Alarm im Dampferversteck los. Der Bewegungsmelder hat eine Aktivität festgestellt. Ein Vielfraß ist auf dem Weg zum Rentierkeulenbaum! Wird die Spürnase erschnüffeln, dass nach ihm auch noch andere auf den Baum kletterten? Sie sind gespannt, hoffen, alles richtig gemacht zu haben. Der Rentierkeulenbesitzer ist misstrauisch. Er schnuppert reichlich lange am Baum. Irgendetwas nimmt er wahr. Er zögert. Der Hunger siegt, er erklimmt den schrägen Baum. Vom Versteck aus filmt Ivo den Aufstieg des Marders. Oliver betätigt den Fernauslöser für die Kamera in dem Kasten. Der scheue Geselle erreicht die Keule, klettert aber an ihr vorbei zum Kasten. Der Vielfraß weiß genau, dieses Ding gehört da nicht hin. Zwei, drei Mal schnuppert er noch daran. Dann ist ihm der Kasten egal. Der Marder macht kehrt, schnappt sich die Keule, kraxelt vom Baum und verschwindet im Wald. Die Videokamera im Kasten hatte den Rentierkeulenbesitzer direkt vor der Nase. Besser geht es nicht! Sie haben zwei Perspektiven auf eine hochspannende Situation. Das ist das Sahnehäubchen, das Nonplusultra des Tierfilms. Die drei freuen sich gewaltig, der Geniestreich ist geglückt, das lange Warten hat sich gelohnt.
Wenn Vielfraße sogar die großen finnischen Waldrentiere und Elche angreifen, sind die großen Marder dann etwa auch für Menschen gefährlich? Diese Frage beantwortet Oliver mit einem Satz: »Es gibt keinen einzigen Bericht von Angriffen auf Menschen.« Im Gegenteil, über Jahrhunderte sind die großen Marder erbarmungslos selbst gejagt worden. Wie in einem Vernichtungsfeldzug sind die Menschen über sie hinweggerollt. Früher kamen die Marder auch in den Vereinigten Staaten bis weit in den Süden des Landes vor. Das ist aber schon sehr lange her. Doch halt, ein Vielfraß ist ganz aktuell in Kalifornien gesichtet worden. Ihre ansonsten bekannten Vorkommen sind die unzugänglichen, einsamen Weiten der Tundra und der Taiga des nördlichen Asiens, Skandinaviens und Nordamerikas.
Vielfraße sind dem Menschen gegenüber extrem scheu geworden. Wie kaum ein anderes Tier haben sie gelernt, die Menschen zu meiden. Viele Menschen wissen nicht einmal mehr etwas von ihrer Existenz. Selbst am Straßenrand sind sie nicht zu finden. »Sie lassen sich nicht von Autos überfahren – dazu sind sie zu schlau.« Der Filmemacher Oliver klingt stolz, wenn er über seine Lieblingstiere spricht. Kaum jemand bekommt sie je zu Gesicht. So sind die scheuen Marder in den Köpfen der Menschen zu Fabelwesen oder Ungeheuern mutiert, denen irgendwann auch die Menschen lieber nicht mehr begegnen wollen. Angst hatten Oliver und Ivo allerdings nicht die Spur: »Gefährlich waren für uns nicht die Vielfraße, sondern unvorhergesehene Situationen.«
Einmal waren die beiden Tierfilmer als Kamerateam gebucht worden, um in Spitzbergen ein Interview mit dem WWF -Geschäftsführer aufzunehmen. Mit der Kamera in der Hand ging Oliver neben einer Straße auf einer Eisfläche entlang. In Gedanken versunken suchte er eine schöne Kulisse. Er trug warme,
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