Keine Angst vor Anakondas
den Drogen, weg von den Ansprüchen der Gesellschaft und dem Zwang, sich behaupten zu müssen. Treadwell suchte den Frieden mit sich selbst in der grenzenlosen Freiheit Alaskas, im ungestörten Naturerlebnis. Hier lernte er die Grizzlys kennen, von denen er später behauptete, dass sie ihn von den Drogen weggebracht hätten. Er stellte fest, dass ihn die Weite und die Einsamkeit der unberührten Natur berauschten – und seine Probleme jenseits der Wildnis in Vergessenheit geraten ließen.
Höhenflug der Sinne
Auch der Tierfilmer Andreas Kieling, bekannt als »der Bärenmann«, war mehrfach in Alaska unterwegs. Auch er will mit seinen packenden Berichten die Menschen sensibilisieren und ihnen die Liebe zu den Tieren näherbringen.
Kieling hat selbst erlebt, wie sich die Natur auf die Stimmung und die Psyche auswirkt, insbesondere, wenn man für längere Zeit alleine unterwegs ist. Er beschreibt es so: »Zunächst bemerkst du, dass die Sinne geschärft werden. Du siehst mehr Details, nimmst die Farben intensiver wahr, der Geruchssinn wird feiner und das Hören schärfer. Es entwickelt sich eine nicht gekannte Sensibilität für die Welt um dich herum, für alles Leben.«
Wer so lange draußen ist, fühlt eine ungeahnte tiefe Verbundenheit mit der Natur. Die Tiere besetzen Bereiche der Psyche, die ansonsten den Mitmenschen vorbehalten sind. Plötzlich beginnt man mit Streifenhörnchen, Fuchs und Grizzly zu reden. Eine einseitige Pseudobeziehung wird aufgebaut. Die natürliche Distanz zum Tier schwindet. Es entsteht eine euphorische Stimmung, in der man sich den Tieren gegenüber sicher fühlt. Die eigene Existenz erscheint unverwüstlich. Das Rationale verschwimmt immer mehr, das gesunde Bewusstsein für Gefahren geht verloren. Auch das Bewusstsein dafür, dass Tiere im Menschen einen Störenfried, einen Nahrungskonkurrenten oder unter bestimmten Bedingungen auch eine Beute sehen können.
Ein in sich ruhender, gefestigter Charakter wie Andreas Kieling nimmt diese Veränderung an sich selbst wahr und reagiert mit erhöhter Konzentration. Treadwell dagegen sang seinen Bären Lieder vor. Er entwickelte eine Bindung, wie Menschen sie normalerweise nur den eigenen Artgenossen, der eigenen Sippe oder Familie gegenüber haben. Dies ist nun im Zeitalter der technisierten, aber auch vereinsamten Welt nichts Ungewöhnliches. Schließlich leben Millionen von Hunden und Katzen in Deutschlands Haushalten und rangieren in der Rangfolge nur zu oft vor den eigenen Kindern oder dem Partner. Für die geliebten Waldis, Hansis oder Minkas ist kein Leckerli zu schade, keine Tierarztrechnung zu hoch – und kein Marmorgrabstein mit Goldlettern zu teuer.
Treadwell wurde zum Opfer seiner Gefühle für die Bären. Dabei machte er es sich nicht einfach. Er hatte sich keine Schmusetiere ausgesucht, keinen Pudel, keine Angorakatze oder keinen Chinchilla, auf die er seine menschlichen Gefühle übertrug. Für einen Exzentriker wie Treadwell musste es schon eines der größten Landraubtiere unserer Zeit sein. Er betonte immer wieder, wie sehr er seine Grizzlys liebe. Vor laufender Kamera äußerte er sogar, dass er am liebsten selbst ein Bär wäre, um das menschliche Dasein hinter sich zu lassen. Er konnte nicht wissen, wie makaber nah er seiner Wunschvorstellung, ein Bär zu werden, kommen sollte.
Allesfresser unter sich
Zoologisch betrachtet gehören die Bären in der Säugetierordnung zu den Carnivora, den Fleischfressern. Alle Carnivora haben sich im Laufe von Millionen von Jahren aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt. Das vielleicht typischste gemeinsame Merkmal sind die vergrößerten Eckzähne. Dabei spielt es keine Rolle, wie groß die Berge an Fleisch sind, die so ein Fleischfresser verdrückt. Bei manchen, meist kleineren Arten der Carnivora steht sogar pflanzliche Nahrung im Vordergrund, und nur hier und da wird ein Käfer, eine Schnecke oder ein Wurm vertilgt.
Es soll Braunbären geben, deren Kost zu über 90 Prozent aus pflanzlicher Nahrung besteht und die den Namen Beerenbären verdient hätten. Sie weiden mit Hochgenuss Blaubeersträucher ab, und für ein wenig Honig sind sie bereit, sich von Bienen malträtieren zu lassen, bis ihre Nase aussieht wie die Oberfläche eines Seeigels. Oder denken wir an einen Verwandten des Grizzlys, den Pandabären, der ausschließlich eine bestimmte Bambussorte frisst und sein ganzes Leben kein einziges Tier tötet, um es zu verzehren. Damit eignet er sich sicherlich besser als Vorbild
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