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Keine Angst vor Anakondas

Keine Angst vor Anakondas

Titel: Keine Angst vor Anakondas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Dirksen
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für die Teddybären unserer Kinderzimmer als die Furcht einflößenden Grizzlybären.
    Ausgewachsene Grizzlys sind seit vielen Jahrtausenden die uneingeschränkten Herrscher der Wälder und Tundren von Alaska und Kanada. Sie stehen an der Spitze der Nahrungskette wie die Löwen Afrikas oder die Orcas und Weißen Haie der Ozeane. Sie sind groß, sie sind bärenstark, und sie sind selbstbewusst. Sie haben keine Angst vor anderen Tieren. Sie haben auch keine Angst vor dem Menschen. Was passiert, wenn ein Grizzly einem Menschen das erste Mal in freier Wildbahn begegnet? Als wen oder was nimmt er ihn dann wahr? Sind wir Beute für ihn? Andreas Kieling, der die Bären kennt wie kaum ein Zweiter, kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: »Er nimmt uns nicht als Beute wahr.«
    Seine Erklärung klingt bestechend einfach: »Entscheidend ist, dass der Bär uns nicht nur optisch wahrnimmt, sondern auch Witterung von uns aufnehmen kann. Der Bär will uns riechen! Für ihn riecht ein Mensch wie andere Raubtiere oder Allesfresser – auch wenn einige von uns Vegetarier sind. Riecht er uns, dann identifiziert er uns als seinesgleichen.« Er destilliert unsere menschlichen Duftmoleküle aus seiner olfaktorischen Welt und schätzt uns anhand dieses Filtrats ein. Beim Bären isst also nicht das Auge mit, sondern die Nase.
    Kieling ist sich aus eigener Erfahrung sicher, dass wir genauso von Wölfen, Eisbären und selbst von Löwen als Allesfresser identifiziert werden. Wir sind für große Beutegreifer einfach nur andere Beutegreifer – und damit erst einmal ein neutrales Wesen. Statistiken belegen dies eindrucksvoll: In den letzten 70 Jahren sind in Schweden lediglich zwei Menschen durch Braunbären ums Leben gekommen. Beide Male waren es Jäger, die einen Elch angeschossen hatten und mit den Bären in eine Konkurrenzsituation um die Beute geraten waren. In Finnland hat es in den letzten 100 Jahren nur einen einzigen registrierten Todesfall gegeben: ein Jogger, der ausgerechnet zwischen eine Bärenmutter und ihre Jungen gelaufen war.
    Kieling hat grundsätzlich keine Waffen dabei, und wenn er etwas schießt, dann sind es brillante Bilder aus erstaunlicher Nähe von den großen und als besonders gefährlich geltenden Tieren. Doch niemals vergisst er, dass er keinen Fehler machen darf, wenn er sich ihnen nähert. Er hält Ausschau nach Anzeichen dafür, ob der Bär vollgefressen oder schlecht gelaunt ist. Denn es ist wichtig zu wissen, was ein wildes, gefährliches Tier gerade antreibt und wozu es fähig ist. Vor allem aber gibt er sich nie der Illusion hin, dass ein wildes Tier in menschlichen Kategorien denkt.
    Kieling ist sich sehr wohl bewusst, dass es zum Konflikt mit einem Bären kommen kann. In dem Moment, in dem man am Lagerfeuer vor einer verheißungsvoll riechenden Gulaschsuppe sitzt und dem Bären der Magen knurrt, wird er aggressiv daherkommen. Denn ausgehungerte Bären sind wenig wählerisch, und existenzieller Hunger führt zu extremen Situationen. Dazu erklärt Kieling: »Der will aber dann nicht über den Koch herfallen, der will die Gulaschsuppe haben! Genauso verhält es sich, wenn du gerade einen Lachs gefangen hast und dabei bist, den zu schlachten. Bekommt der Bär das spitz, dann will er deinen Fisch haben. Er ist selbstbewusst, er ist größer und nimmt sich, was er will. So sind die Regeln nun einmal. Wenn du den Fisch nicht hergibst, also nicht zurückweichst, dann zeigt er dir, wer hier der Chef ist, und haut dir eine runter. Das kann tödlich sein, ist aber nicht einmal die Absicht des Bären.«
    Wer die Spielregeln in der Wildnis nicht kennt, der hat schnell das Zeitliche gesegnet. Man muss in der Art mitspielen, wie es die Bären untereinander ausmachen: Der Stärkere verdrängt den Schwächeren. Ein ausgewachsener Grizzly hat keine Scheu vor dem Menschen. Wer nicht gerade mit Gulasch vollgekleckert ist, komplett nach frisch ausgeweidetem Lachs stinkt oder zufällig auf einen halb verhungerten Bären trifft, der wird nichts zu befürchten haben. Der Bär wird ihn riechen, erkennen und außerhalb seines persönlichen Bannkreises dulden.
    Kieling hält die Grizzlys sogar für ausgesprochen tolerant, aber nicht für soziale Wesen. Zu bedenken ist auch, dass es bei den Tieren, genau wie bei uns Menschen, ausgeprägte Charaktere gibt. Was der eine Grizzly duldet, kann beim nächsten ein fataler Fehler sein. Das, was wochenlang wie eingespielt zwischen Tier und Mensch erscheint, kann von einem Augenblick auf den

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