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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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retten. Dann machen wir’s eben umgekehrt, und ich erschieße dich, wenn sie nicht trinkt. Na, Yvonne, was hältst du davon?
    Yvonne antwortete nicht. Sie riß sich mir den Schneidezähnen die Haut von der Unterlippe und schüttelte schwach den Kopf.
    Ich kann dich nicht verstehen, schnauzte Habermas. Was willst du mir sagen? Daß er nicht sterben soll? Oder daß du nicht sterben sollst? Sag schon, willst du sterben? Komm, sag’s mir, sag Papa alles!
    Yvonne blickte in die Mündung.
    Nein, flüsterte sie kaum hörbar.
    Was, nein?
    Ich will nicht sterben.
    Aber wenn du ihn doch retten kannst! In so viele Opern hast du mich geschleppt, ich mußte mir diesen dämlichen Tristan angucken und den Parsifal und den Fliegenden Holländer, und überall wird brav gestorben für die Liebe. Warum nicht hier, warum nicht du?
    Keine Antwort.
    Gut, sagte Habermas mit plötzlicher Ruhe. Ich zähle jetzt bis drei. Wenn bis dahin nicht einer von euch das Glas geleert hat, knalle ich euch beide über den Haufen. Eins …
    Es klickte metallisch, als er die Waffe entsicherte.
    Zwei …
    Vernon starrte auf das Glas. Seine Hand bewegte sich schwach, ohne zuzugreifen.
    Drei …
    Atemlose Stille.
    Trink das verdammte Bier, schrie Yvonne den verdutzten Vernon an. Du bist schuld, daß wir hier sitzen!
    Sie brach in Tränen aus und schlug die Hände vor’s Gesicht.
    Vernon saß wie vom Donner gerührt.
    Ich bin schuld? flüsterte er fassungslos. Ich, ich soll schuld sein? Zum Teufel, wer hat denn angefangen, mir schöne Augen zu machen? Mir zwischen die Beine zu packen? Du doch! Du warst das doch! Nicht ich, du hast angefangen! Trink du es doch, krepier doch an deiner Geilheit!
    Habermas sah sie der Reihe nach mit aufgerissenen Augen an. Der Mund stand ihm offen.
    Aber ich dachte, ihr liebt euch, säuselte er in gespielter Verwunderung.
    Niemand erwiderte etwas. Es gab keine Worte mehr.
    Habermas schüttelte den Kopf. Gelassen legte er den Revolver vor sich auf den Tisch, langte herüber, nahm Vernons Glas und leerte es in einem Zug.
    Wir wollen’s doch nicht schal werden lassen, sagte er entschuldigend.
    Sie starrten ihn an.
    Ach ja, fügte er hinzu, ich habe euch angelogen. Man braucht kein Zyankali, um eine Liebe wie eure zu vergiften. Das geht ganz wunderbar auch ohne.
    Und dann fing er an zu lachen.
    Er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Brüllte, kreischte und heulte vor Gelächter. Konnte gar nicht mehr aufhören. So sehr schüttelte es ihn, daß er sogar noch lachte, als schon die Kugel in seinem Herzen steckte, die Yvonne auf ihn abgefeuert hatte.«
    Die Spinnwebfrau sah entrückt vor sich hin. Der Sammler wagte kaum zu atmen.
    »Sie hat ihn erschossen«, sagte sie. »Dafür, daß sie einander verraten hatten, sie und Vernon. Aber eigentlich kann man Habermas keinen Vorwurf machen. Was hatte er schon groß getan, als ihnen den Spiegel vorzuhalten. Und als sie hineinsahen, glotzten zwei Tote zurück, stumpf, kalt und ohne Empfindungen. Was uns tötet, ist, was wir in uns töten. Ja, so ist das.«
    »Feierabend!« rief von hinten einer der Köbesse.
    Die Spinnwebfrau blinzelte. Dann lächelte sie wieder dieses seelenlose Lächeln, erhob sich und nickte dem Sammler freundlich zu.
    »Wie lange liegt das schon zurück«, seufzte sie. »All die Toten, denen wir hinterherleben. Mehr Seelen sind drüben als hier, wie sollen wir denn Frieden finden, wenn sie so an uns herumzerren?«
    »Sie sind Yvonne«, sagte der Sammler leise.
    Sie bewegte leicht den Kopf, ein tatteriges Schütteln oder schüchterne Zustimmung, kaum zu sagen.
    »Hat mich gefreut, junger Mann. Vielleicht bis bald mal. Ich bin oft hier, zwei-bis dreimal die Woche … aber das hatte ich ja schon erzählt.«
    Mit spinnendürren Fingern legte sie einen Geldschein zwischen die aufgeweichten Bierdeckel, nickte ihm noch einmal zu und ging.
    Der Sammler ließ seinen Blick die Reihen der hochgestellten Stühle entlangschweifen. Stumme, gleichgültige Zeugen. Was immer den Menschen widerfuhr, was sie bewegte, begeisterte und vernichtete, am Ende stellte jemand die Stühle hoch.
    Er fuhr sich über die Augen und fühlte sich mit einemal schwach und armselig. Noch einmal sah er sich um, bevor auch er aufstand. Dann verharrte er und lauschte in die plötzliche Stille hinein, als warte er auf Antwort von den Stuhlspalieren.
    Sie erinnern mich daran, hatte ihm ein philosophierender Köbes einmal erklärt, daß sich unser Leben nicht im Erklingen, sondern im Verklingen

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