Keine E-Mail fuer Dich
selbst hält sich nicht für spielsüchtig, schließlich gehe er ja noch seiner Arbeit nach. Er kenne andere Fälle, aber eher bei jüngeren Leuten, die dann nicht mehr zur Schule oder Uni gehen, nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen, es nicht mal mehr bis auf die Toilette schaffen. Die würden dann in leere Flaschen urinieren, damit sie nicht vom Bildschirm wegmüssen. Das fände er schon etwas krank. Er selbst sei psychisch völlig gesund, denn er sitze ja nicht in einer solchen »Spielhölle«.
Der Patient kam nach der ersten Sitzung nicht mehr in die Praxis, es gibt bei ihm offenbar keine Krankheitseinsicht und daher auch keine Motivation für eine Therapie. Das Online-Spiel ist nur ein Nebenschauplatz. Die Beziehung zwischen Jens und seiner Frau ist in einer großen Krise. Statt miteinander zu reden, befriedigt die Ehefrau ihre Bedürfnisse auswärts, und Jens ignoriert und verleugnet die Affäre seiner Frau. Der Konflikt wird durch die Beschäftigung mit dem Online-Spiel verdrängt. Eine Psychotherapie wäre sinnvoll, aber nur wenn Jens selbst überhaupt Hilfe möchte. Es müsste erarbeitet werden, welche Bedürfnisse Jens im realen Leben hat und wie er diese aussprechen und äußern kann. Die Frau droht wegen des Spielens zwar mit Scheidung, jedoch wird sie ihn nicht verlassen, denn das Haus hält die Ehe überhaupt zusammen. Die beiden müssen nun weiterhin so miteinander weiterleben.
Ein weiteres, sehr extremes Beispiel:
Laura, 23 Jahre alt, Auszubildende und vor Kurzem in eine WG gezogen, kommt aus einem wohlbehüteten Elternhaus, hat allerdings Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten und neue Freunde zu finden. Ihre Freizeit verbringt Laura am liebsten in ihrem WG -Zimmer vor dem Laptop, sie liebt Online-Rollenspiele wie Sherlock Holmes . Man legt sich ein Profil an, um dann online, oft auch anonym, einen völlig anderen Charakter zu verkörpern. In der Presse wurden diese Spiele früher unter »Second Life« bekannt. Heute gibt es unzählige Online-Spiele dieser Art. Auf diesem Weg hat Laura auch ihren neuen »Freund« kennengelernt. Matthew wohnt in Liverpool und ist 14 Jahre alt. Seit einem Jahr sind sie »zusammen«, sind sich im realen Leben aber noch nie begegnet. Völlig verzweifelt kommt Laura jede Woche in meine Praxis. In ihrem Online-Rollenspiel hat es doch tatsächlich ein anderes Mädchen gewagt, »mit ihrem Freund zu schlafen«. Es geschehe ihr wohl recht, da sie dort vorher einer anderen ja auch den »Freund« ausgespannt habe. Matthew wurde von ihr sofort per E-Mail zur Rede gestellt, er hat sich bei Laura entschuldigt, und sie sind nun weiterhin »zusammen«. Jetzt hat sie große Angst, dass in nächster Zeit so etwas wieder passieren könnte. Auf meine Frage, ob sie in der Realität überhaupt schon mal körperliche Nähe mit einem Mann erlebt habe, antwortet sie mit Nein. Ihr Online-Charakter hätte allerdings schon sehr oft Sex mit Matthew gehabt. Es gäbe bisher auch keine Pläne, sich in der Realität zu treffen, davor hätte sie große Angst, da sie befürchte, für ihn nicht attraktiv genug zu sein und dass er sie dann verlassen würde. England sei ja auch zu weit weg, rechtfertigt sie sich. Das Online-Sein, Chatten und SMS -Schreiben mit ihm reiche ihr völlig, damit sei sie täglich sehr beschäftigt.
Laura erkennt nicht, dass sie selbst die Bedingungen dafür schafft, dass sie in der Realität isoliert und allein ist. Sie selbst weiß, dass sie mal raus und unter Leute müsste, aber sie kann sich einfach nicht überwinden. Dieser Schritt scheint ihr zu schwierig und zu mühsam. Auch die Tatsache, dass Matthew erst 14 Jahre und eigentlich noch minderjährig ist, blendet Laura völlig aus. Im Internet sei schließlich alles möglich. Ihre Bemühungen richten sich tagtäglich darauf, ihre »Beziehung« zu Matthew aufrechtzuerhalten, da sie sonst niemanden hat, auch im Netz nicht mehr.
Aufgrund ihrer Eifersuchtsattacken im Online-Rollenspiel haben ihr mehrere »Online-Freundinnen« die Freundschaft gekündigt und sie aus den Freundeslisten gelöscht. Dies trifft Laura sehr, fühlt sie sich nun doch abgelehnt und ungeliebt. Mit ihren »Freundinnen« habe sie sich doch immer so gut verstanden. Sie verstehe nicht, warum diese jetzt keinen Kontakt mehr mit ihr haben wollen. Keine Einzige dieser sogenannten »Freundinnen« hat Laura jemals in ihrem Leben getroffen.
Ich dachte, es könne nicht schlimmer kommen, aber es gibt tatsächlich noch Steigerungsmöglichkeiten.
Durch
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