Keine E-Mail fuer Dich
nachvollziehen, dass er sie nicht mehr wolle. Aber so sei es ja nicht, und sie sei halt Realistin. Ich solle den Rüdiger wieder fit machen.
Es ist Montag, und Rüdiger kommt vorbei. Er sieht ernst aus.
Er könne nur eine halbe Stunde bleiben, etwas Furchtbares sei passiert. Er sei nach Hamburg gefahren. Als er dort aus dem ICE gestiegen sei, sei es ihm sehr schlecht gegangen. Er habe plötzlich keine Lust mehr gehabt, sich mit der Studentin zu treffen. Ihm sei klar geworden, dass er Tina wirklich liebe, aber er hatte irgendwie ein komisches Gefühl. Er erledigte seine Business-Termine und fuhr abends mit dem Zug zurück. Nichts wäre schöner gewesen, als nach Hause zu kommen und von Tina in die Arme genommen zu werden.
Als er die Haustür aufschließen wollte, steckte der Schlüssel von innen. Er klingelte. Es dauerte mehrere Minuten, bis Tina ihm endlich die Tür öffnete. Sie habe ziemlich überrascht ausgesehen und nur gefragt, was er denn hier mache. In dem Moment sei ihm klar geworden, dass er sie auf frischer Tat ertappt hatte. Er kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten und fängt an zu weinen. Sie hätten dann die ganze Nacht geredet und sich ausgesprochen. Er fühlte sich irgendwie erlöst. Er hatte auch keine Selbstmordgedanken mehr. Dann überlegte er, mit ihr nach Paris zu fahren, um die Beziehung irgendwie zu retten. Er wollte ihr noch eine Chance geben.
Aber am Sonntag merkte er dann, dass er Tina nicht mehr in seinem Haus haben wollte, denn sie hatte mit diesem Typen in seinem Bett gelegen, in seiner Designer-Bettwäsche! Darum entschied er, einen Express-Auszug zu organisieren.
Das Bett und die Matratze habe er gleich zum Sperrmüll abtransportieren lassen. Er werde jetzt erst einmal ein paar Wochen im Gästezimmer schlafen, und dann würde er sich in aller Ruhe ein neues Bett kaufen oder gleich alles umräumen. Er habe morgens Kartons voller Schuhe aus dem Haus schleppen lassen und Klamotten ohne Ende. Ja, einkaufen konnte sie! Er sei sehr wütend gewesen. Innerhalb von zwei Stunden sei alles erledigt gewesen, und die Jungs hatten ihr Zeug zu ihren Eltern gefahren.
Ich war überrascht von seinem plötzlichen Aktionismus, hatte er doch vor Wochen noch erklärt, er könne sich nicht von Tina trennen.
Sollte sie es wagen, heute nach der Arbeit nach Hause zu kommen, würde sie vor verschlossener Türe stehen. Er habe schon mal vorsorglich die Schlösser austauschen lassen. Falls sie klingele, mache er ihr natürlich höflich die Tür auf, aber rein lasse er sie auf keinen Fall. Wenn sie mit ihm sprechen wolle, könnten sie das auch an der Gartenhecke tun oder per SMS .
Aber wo soll Tina denn jetzt wohnen?
Bei ihren Eltern, das sei doch jetzt nicht mehr sein Problem. Drei Jahre habe sie bei ihm mietfrei gewohnt, da habe sie eine Menge Geld gespart. Mitleid müsse er mit ihr wirklich nicht haben. Seine Mutter wüsste noch von gar nichts. Er wolle einfach frei sein und glücklich werden. Ich soll ihm dabei helfen, dann halte er das Alleinsein schon irgendwie aus. Seine wenigen Freunde habe er die letzten Jahre arg vernachlässigt, Kontakte knüpfen sei nicht sein Ding. Auf der Arbeit habe er es als Chef schwer. Privat sollte man mit seinen Mitarbeitern besser nichts zu tun haben. Er könne vielleicht in einen Verein eintreten und sich dort ein »soziales Netzwerk« aufbauen. Mit Sport habe er es aber nicht so. Oder vielleicht werde er Mitglied einer Partei, da könne er sich sinnvoll betätigen.
Das Fallbeispiel zeigt ausführlich, wie sich manche Menschen heute konsumieren. Was nicht passt, wird ignoriert, und es wird sich neu auf »Menschensuche« begeben. Es ist traurig, sich als Therapeutin so etwas mitanhören und -ansehen zu müssen. Wer jetzt denkt, es handele sich um einen Einzelfall, der irrt. Solche Kommunikations- und Beziehungsstörungen sind in meiner Praxis ganz alltäglich. Die Menschen wissen nicht mehr, wie sie miteinander umgehen sollen. Durch Internet und Medien wird diese Unfähigkeit öffentlich vorgelebt. Konsum wird als etwas völlig Normales dargestellt. In Reality-Soaps und Talkshows keifen sich alle an. Alles wird immer nur problemorientiert dokumentiert, die einzige Lösung scheint Kontaktabbruch, Trennung, Flucht und neue Beziehung zu sein. Lösungsorientierte Ansätze, wie man sich z. B. in einer Beziehung benimmt oder in einer Beziehung bleibt, sind medial uninteressant. Als Therapeutin erlebe ich erwachsene Menschen, die sich wie hilflose kleine Kinder benehmen,
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