Keine Frage des Geschmacks
jetzt drehen Sie jeden einzelnen von denen durch die Mangel, verstanden? Und achten Sie darauf, dass derjenige, der den Verhörraum verlässt, den anderen nicht begegnet.«
Er hätte auch ein Rudel ausgehungerter Löwen auf ein Gnu hetzen können. In einer solchen Verfassung war Pina Cardareto gnadenlos. Laurenti kannte sie gut genug.
»Das dauert Stunden. Wo ist eigentlich Battinelli?« Pina verdrehte die Augen.
»Er kommt erst am Nachmittag zurück. Ich rufe Marietta. Sie wird Ihnen sekundieren und protokollieren.«
»Und was machen Sie?« Es klang wie ein Vorwurf.
»Ich schnüffle noch ein bisschen an Mariettas Slips.«
*
Das einzige Verkehrsmittel, mit dem man im städtischen Verkehrschaos flugs und fast unbehindert zum Ziel kam, war der Motorroller. An wartenden Fahrzeugen fuhr man einfach vorbei, und durch den fließenden Verkehr bretterte man in wildem Fahrspurwechsel und überholte ein Auto nach dem nächsten. Und wenn kein Stadtpolizist mit weißen Helm zu sehen war, kümmerten einen auch die roten Ampeln nicht. Da brausten Kids auf knatternden Fünfzigern, flotte Banker mit fliegendem Schlipsen ritten PS-starke Maxi-Scooter wie Raumgleiter. Rentner hatten meist eine aufmontierte Windschutzscheibe am Gefährt, sonnengebräunte Frauen legten Wert auf elegante Farbabstimmung zwischen Sattel, Fahrgestell und Sturzhelm, unter dem ihre Haarpracht hervorschaute und sinnlich im Fahrtwind flatterte. Proteo Laurenti bevorzugte die wendigen Klassiker. Und weil man mit diesen Dingern keine Parkplatzsorgen hatte, war die Dichte an Motorrollern in Triest höher als die Zahl der Führerscheininhaber, wobei bisher noch niemand erklären konnte, wie es ein Teil der Bevölkerung fertigbrachte, zwei dieser Dinger auf einmal zu fahren. Doch jetzt stand Laurenti mit seiner Vespa wie alle anderen auf dem Fleck und schwitzte unter dem Sturzhelm.
Ein Meer roter Fahnen zog langsam den Corso Italia hinauf und wurde von knarrenden Lautsprecherdurchsagen begleitet. Die größte Gewerkschaft hatte zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen, zehntausend Teilnehmer versammelten sich auch hier in der Landeshauptstadt – trotz des schönen Wetters. Die Lage in diesem Jahr war ernst: Die angekündigten Sparmaßnahmen der Regierung gaben allen Grund zur Empörung, ließen sie doch die oberen Einkommensklassen unberührt, während alle anderen die Gürtel enger schnallen sollten. Ordnungskräfte zum Beispiel hätten auf ihr dreizehntes Monatsgehalt verzichten sollen. Doch auch die Informationspolitik des Staatsfernsehens sorgte fürAufruhr. Die Sendeanstalt war zum Propagandainstrument des Politbüros gemacht worden und unterschlug unbequeme Nachrichten. Es ging fast zu wie unter einem kommunistischen Regime.
Marietta war bereits beim dritten Klingeln am Apparat und wenig begeistert, als ihr Chef sie ins Büro beorderte.
»Ich bin am Strand von Liburnia. Du versaust mir den ersten Tag, den ich am Meer verbringen wollte«, maulte sie.
Kehrte seine Assistentin etwa ins irdische Leben zurück? Früher hatte sie sogar die Nächte am Nudistenstrand verbracht, doch seit dem Frühjahr machte sie den Eindruck, als sei sie in eine Sekte eingetreten, deren oberstes Ziel die Selbstkasteiung war. Auch unter Humorverlust hatte sie gelitten. Und jetzt? Hatte etwa auch »Bobo«, der weiße Hase, sein Fell am FKK-Strand abgelegt? Laurenti wählte die sanftesten Worte, die er an diesem Morgen zu finden vermochte.
»Ich brauche dich dringend, liebe Marietta. Es brennt an allen Ecken. Du kannst dafür ein andermal freimachen. Wir kommen ohne dich nicht weiter.«
»Das höre ich aber gerne, Chef«, antwortete sie zu seinem Erstaunen, und der Commissario fragte sich, ob sie ihn verulkte. »In einer halben Stunde bin ich da.«
»Danke, meine Liebe. Pina wird dir alles erklären.«
Vergebens hatte er im Hochhaus bei Aurelio Selva geklingelt. Zuerst unten am Eingang. Dann aber verließ der freundliche Literaturprofessor das Haus, der sich als Spezialist für das Genre des Kriminalromans einen Namen gemacht hatte und den Laurenti aus der Malabar kannte. Sie wechselten ein paar Worte, dann fuhr er in den vierzehnten Stock und klingelte an der Wohnungstür Sturm. Kein Mucks drang heraus, tatsächlich schien niemand zu Hause zu sein. Als er sich abwandte, fiel sein Blick auf die Klingel am Eingang nebenan: R. R. Hier würde er auch bald vorstellig werden.
Wenn Laurenti eines nicht ausstehen konnte, dann war es, aufgehalten zu werden.
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