Keine Frage des Geschmacks
voraus, navigierte mit energischemSchritt durch einen langen, mit grauer Ölfarbe gestrichenen Flur und bat sie schließlich vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen, auf dem ein Namensschild sie als Inspektorin Giuseppina Cardareto auswies. Die Kleinsten waren meist die Energischsten, Candace war beruhigt. Nachdem die Polizistin die Angaben zu ihrer Person aufgenommen hatte, fragte sie noch nach der Nummer ihres Mobiltelefons und gab ihr ihre Visitenkarte. Dann klappte sie einen Aktendeckel so auf, dass Candace den Inhalt nicht erkennen konnte, und blätterte in den Unterlagen. Schließlich zeigte sie ihr das Porträtfoto einer rothaarigen Frau mit seltsam geschlossenen Augen.
Candace fuhr entsetzt hoch und riss ihr das Foto aus der Hand.
»Sie lebt«, sagte die Inspektorin sogleich. »Sie wird durchkommen. Beruhigen Sie sich. Sie hat sehr viel Glück gehabt.«
»Wo? Ich will zu ihr!«
»Sie ist nicht vernehmungsfähig.«
»Ich will sie doch nicht verhören. Sie ist meine Mutter.« Candace sprang auf.
»In unserem Polyklinikum. Sie ist in guten Händen. Lassen Sie ihr und sich etwas Zeit.«
»Wer hat ihr das angetan? Was ist passiert, um Gottes willen?«
»Das ist widersprüchlich. Auf der Tatwaffe befinden sich einige Fingerabdrücke. Allerdings hält kein Mörder sein Messer nur mit zwei Fingern.«
Candace starrte die Inspektorin an. Es kam so oft vor, dass man mit Leuten zu tun hatte, die sich nicht vorstellen konnten, dass es Menschen gab, die sich nicht auf ihrem Informationsstand befanden.
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Candace.
»Die beiden Abdrücke stammen von einem Somalier, einem fliegenden Händler. Der Verdächtige liegt ebenfalls aufder Intensivstation. Auch er ist nicht vernehmungsfähig. Er wird bewacht.«
»Alberto!«, rief Candace. »Sie hat in ihrem Mail von ihm berichtet. Er hat ihr geholfen und den Verfolger fotografiert.«
Pina nickte. »Das kann schon sein.« Ihre Hand lag auf dem Aktendeckel, und ihre Stimme klang hart. »Sie haben also mit Ihrer Mutter darüber gesprochen?«
»Wir haben gestern Nachmittag telefoniert, und heute Nacht gegen vier hat sie mir ein Mail geschickt.«
»Haben Sie es dabei?«
Sie nickte und zog drei gefaltete Blätter aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, mit denen Pina zum Fotokopierer auf dem Flur ging. Candace nutzte die Chance und schlug den Aktendeckel auf. Die Fotos ihrer Mutter lagen zuoberst. Sie sah schlimm aus. Ihr Gesicht war blutverschmiert und geschwollen. Ihr Blick ging ins Leere. Eine Vergrößerung zeigte eine vernähte Schnittwunde an ihrem Hals, aus dem eine transparente Kanüle ragte. Candace schlug rasch die Mappe zu, als sie die Schritte auf dem Flur vernahm.
»Hat Sie bei Ihnen die Anzeige erstattet?«, fragte sie, als die Inspektorin ihr das Original zurückgab.
Für einen Sekundenbruchteil senkte Pina den Blick. »Ja, und ich habe sie anschließend unter Bewachung in ihr Appartement bringen lassen. Sie sollte heute um diese Uhrzeit eigentlich hier sitzen und sich die Fotos aus unserer Datenbank ansehen.« Sie unterdrückte ein Gähnen, dann zog sie einen Schlüssel aus der Mappe. »Strada del Friuli 98. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich dort umzuschauen. Wenn Sie möchten, fahren wir zusammen hin. Ob Sie dort bleiben können, weiß ich allerdings nicht. Das hängt davon ab, was wir finden.«
Die Inspektorin warf einen Blick auf die riesige Armbanduhr an ihrem Handgelenk, unterdrückte schon wieder ein Gähnen und tippte noch drei Sätze in den Computer. Dannlegte sie Candace das knappe Protokoll vor und bat sie um ihre Unterschrift.
»Ich schlage vor, wir fahren gleich los.« Die Inspektorin erhob sich und nahm eine schwere Pistole aus einer Schublade, die sie in das Gürtelholster steckte. Sie warf sich eine leichte Jacke über die Schultern, die die Waffe kaum verdeckte.
»Und wann kann ich zu meiner Mutter?«
»Ich kann Sie gut verstehen, Signorina. Natürlich können Sie sofort zu ihr, sofern die Ärzte nichts dagegen haben. Aber sie wurde erst vor ein paar Stunden operiert. Warten Sie wenigstens, bis sie sich von der Narkose erholt hat.« Die kleine Polizistin war also doch zu menschlichem Mitgefühl in der Lage. Sogar zu einem sanften Lächeln. Auf einem Zettel notierte sie die Anschrift des Krankenhauses und die Station, auf der Miriam Natisone versorgt wurde. »In der Zwischenzeit könnten Sie mir helfen, indem wir zusammen die Sachen Ihrer Mutter ansehen. Was meinen Sie?«
Die Inspektorin meldete sich
Weitere Kostenlose Bücher