Keine Frage des Geschmacks
dieser Laurenti gestern Nachmittag preisgegeben hatte, war die Beweislage äußerst mager. Dass er nicht der Absender des Päckchens an die Engländerin war, könnte der Fahrer vom Kurierdienst bezeugen. Giulio kannte die Tricks der Bullen. Ihn festzusetzen war doch nur ein dämlicher Einschüchterungsversuch, auf seine Kosten hatte man den Engländern nachgegeben. Aus Angst vor schlechter Presse. Natürlich hatten sie den Computer und sein Mobiltelefon beschlagnahmt, sein Auto durchsucht, die Papierstapel auf dem Schreibtisch durchgeforstet. Doch laut Gesetz müsste innerhalb von achtundvierzig Stunden seit der Festnahme ein Untersuchungsrichter über seine Inhaftierung entscheiden, und er hatte noch nicht einmal die Ehre des Staatsanwalts gehabt. Das war vermutlich der Grund für seine Überstellung nach Triest, in der Hauptreisezeit begab sich schließlich keiner aus dieser Kaste wegen eines Verhörs in einer so läppischen Angelegenheit auf die Autobahn.
Gazza zählte die Stunden, die er bereits hinter sich hatte. Nachdem Raccaro am Nachmittag nicht ans Telefon gegangen war, hatte er im Beisein des Commissarios Aurelio angerufenund ihm die Lage geschildert. Die Zecke war ganz entsetzt gewesen und hatte hoch und heilig versprochen, sogleich Leles Anwaltskanzlei zu unterrichten und Dampf zu machen. Schon am Abend wäre er wieder draußen. Das einzige, was ihn nervte, war die Ungewissheit über den weiteren Verlauf des Tages. Den Beamten, der ihm bei seiner Ankunft die persönlichen Sachen wieder abnahm, und auch den Schließer hatte er danach gefragt. Mit starrem Gesichtsausdruck zuckten sie gleichgültig die Schultern – wie bei jedem seiner früheren Aufenthalte im Knast. Zuletzt saß er eineinhalb Jahre, aber das lag schon geraume Zeit zurück. Warten auf andere war nicht angenehm. Eine Verurteilung gab wie ein Freispruch wenigstens Gewissheit.
*
Das Taxi hielt in einer engen Seitenstraße vor dem Haupteingang eines mächtigen Gebäudes aus weißem Marmor, über dem das Wort QVESTVRA in den Stein gehauen war. Samstags zur Mittagszeit befand sich hier kein Mensch auf der Straße. Zögernd ging Candace mit ihrer Reisetasche in der linken Hand die drei Treppenstufen empor und zog die riesige Eingangstür auf. Die Empfangshalle hatte etwas Gespenstisches: Eine breite, mit einem roten Teppich ausgekleidete Marmortreppe führte nach oben, daneben lag, wie eine christliche Kapelle, eine Nische, an deren Wänden die Namen der Beamten geschrieben standen, die im Dienst ihr Leben gelassen hatten.
»Bitte, kann ich Ihnen helfen?«
Candace schaute sich suchend um und entdeckte weiter rechts endlich eine hölzerne Kanzel, an dem eine junge Uniformierte gelangweilt Dienst schob und sie zu sich winkte.
»Samstags sind die Schalter der Ausländerbehörde von acht bis dreizehn Uhr geöffnet.«
»Deswegen bin ich nicht hier. Ich möchte mit einem Verantwortlichen sprechen.« Ihr Italienisch war noch holprig, und doch fühlte sie sich in dieser Sprache zu Hause.
»Um was dreht es sich?«
»Ich vermisse meine Mutter. Sie sollte mich vom Flughafen abholen und ist nirgends aufzufinden. Ich weiß, dass Sie letzte Nacht hier Anzeige erstattet hat, weil sie sich bedroht fühlte. Ich mache mir Sorgen.«
»Wie heißt Ihre Mutter?«
»Miriam Natisone.«
»Und Sie?«
»Candace Eliott.«
»Ihren Ausweis, bitte.«
Candace legte das Dokument auf das Pult, ließ den prüfenden Blick über sich ergehen, bei der Zeile mit der Körpergröße schaute die Frau sie ein zweites Mal an, eins zweiundachtzig. Der Zeigefinger der Beamtin glitt über eine Telefonliste. Nach einem kurzen Gespräch wiederholte sich die Szene, der Finger zeigte auf eines der Kommissariate. Erst nach dem nächsten Versuch schaute die Polizistin auf.
»Wie hieß Ihre Mutter noch mal?«, fragte sie.
»Sie heißt Miriam Natisone.«
Ein paar Worte später legte die junge Frau auf. »Warten Sie hier. Es kommt jemand und holt Sie ab. Was haben Sie da in Ihrer Tasche?«
»Es ist mein Reisegepäck. Ich bin soeben gelandet.«
Auch in Triest gab es die üblichen Sicherheitskontrollen, schon draußen am Gebäude war Candace die Videoüberwachung ins Auge gefallen. Sie ließ den Blick durch die Halle schweifen – Monumentalarchitektur aus den Dreißigern. Eine kleine Frau in Jeans und T-Shirt, die ihr kaum bis zum Schlüsselbein reichte, stand plötzlich vor ihr und bat sie mitzukommen. Zwei Stufen auf einmal nehmend ging die Polizistin auf der breiten Treppe
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