Keine Frage des Geschmacks
Selvas Aktentasche.
Candace schaute sie fragend an. »Eigentlich wollte ich das«, sagte sie. »Aber nach dem, was Ihr Chef gesagt hat …«
»Wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen«, sagte Pina und legte den Papierstapel zurück auf die Tastatur. »Ich bin mir sicher, dass der Alte nichts Böses getan hat. Er hat sich vermutlich nur selbst vom Zustand Ihrer Mutter überzeugt. War sie denn in Panik?«
»Nein. Mummy war ganz ruhig. Er hat die ganze Zeit mit ihr geredet. Auf Englisch, mit amerikanischem Akzent.«
»Sehen Sie, dann hat er ihr sicher alles erklärt. Deswegen war sie ruhig. Galvano stammt aus Boston und ist zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Alliierten hierhergekommen. Überlegen Sie es sich, die Anzeige können Sie auch ein andermal erstatten, wenn es ihnen nicht geheuer ist.«
»Was meinte der Commissario denn, als er sagte, die Gefahr sei vorüber?«
»Dieses Material hier«, Pina wies auf den Inhalt aus Aurelios Aktentasche, »haben wir dem Mann abgenommen, der Ihre Mutter verletzt hat. Er sitzt in einer der Zellen nebenan.Ihre Mutter hat ihm eine Haarsträhne ausgerissen, die DNA wird alles beweisen. Sie muss jede Minute eintreffen.«
»Und weshalb hat er ihr das angetan?«
»Das müssen wir noch herausfinden. Ich halte Sie auf dem Laufenden, und Sie bitte uns. So, und jetzt muss ich mich an diese Auswertung machen. Nehmen Sie ein Taxi und fahren Sie in das Appartement, ruhen Sie sich aus. Wo habe ich bloß den Schlüssel?«
Wieder stapelte Pina die Papiere um, wobei der Stapel verrutschte und das gerahmte Foto vor Candaces Füße fiel und das Glas zersplitterte. Die junge Frau hob es auf und reichte es der Inspektorin. Doch dann zog sie auf einmal ihre Hand zurück und betrachtete das Bild genauer.
»Kann ich davon einen Abzug haben?«, fragte sie aufgeregt.
»Weshalb denn das?« Pina stutzte. »Das ist Beweismaterial.«
»Woher haben Sie das Foto?«
»Der Mann, der Ihre Mutter angegriffen hat, trug es in seiner Tasche. Er behauptet, es gehöre nicht ihm, sondern Raffaele Raccaro. Eine sehr einflussreiche graue Eminenz.«
»Der Inhaber des Bildarchivs? Meine Mutter hat ihn getroffen. Und war entsetzt über seine rassistischen Äußerungen.«
»Niemand würde ihn als Liberalen bezeichnen. Aber warum regt Sie das Ganze so auf?«
»Dieser Tisch. Wir haben genau den gleichen Tisch zu Hause.«
Pina ging zu der jungen Frau hinüber, die das Foto mit beiden Händen hielt, und nahm es genauer in Augenschein. »Ein Foto aus der Zeit des Faschismus. Abessinien. Keine Ahnung, wer das ist«, sagte sie dann. »Aber Sie können es auf keinen Fall haben.«
»Dürfte ich es denn abfotografieren?« Candace zog ihre Kamera aus der Reisetasche.
»Nein«, sagte Pina. »Das geht leider auch nicht.« Dannwandte Sie sich an den Kollegen am anderen Schreibtisch. »Komm mal einen Augenblick mit auf den Flur.«
Sie ließen Candace allein. Als sie zurückkamen, lag das Bild wieder auf seinem Platz. Ihre Reisetasche war geschlossen.
*
Der Platz war knapp geworden, obwohl Marietta beim Verwaltungschef die Erlaubnis eingeholt hatte, den Konferenzraum zu belegen. Sie hatten, nach einer Vorbesprechung mit dem Commissario, die langen Tischreihen in Abteilungen unterteilt und ihre Beute nach Fundorten ausgelegt. Ein zwei Meter langes Stück war leer, nur ein Blatt lag darauf. Sein Titel lautete »Greta Garbo – Ravenna«, die zwei Unterpunkte basierten auf der telefonischen Auskunft der dortigen Kollegen: »Geldkoffer, 6 Mill. €«, und »Auswertung Scientifica Padua«. Zur Linken sortierte ein Beamter mit Latexhandschuhen den Müll, den sie aus Aurelio Selvas Küche mitgebracht hatten. Eine Mokka mit verbrannter Dichtung stand am Ende des Tisches, der organische Müll befand sich in einem Plastikeimer. Gott sei Dank kochte der Wohnungsinhaber offensichtlich nie zu Hause, das meiste war verbrauchtes Kaffeepulver, leere Joghurtbecher; Bananenschalen, Pfirsichkerne und Papiertaschentücher. Der Inhalt des Papierkorbs aus seinem Wohnzimmer war schon interessanter. Einige zerrissene Computerausdrucke, die Firmenstrukturen und Personenverbindungen und eine Menge roter Fragezeichen aufwiesen, ferner zehn Fotos, die die Grenzen der Amateurpornografie weit hinter sich ließen. Alle Beamten betrachteten sie eingehend und bemühten sich um einen sachlichen Gesichtsausdruck. Daneben lag ein Schild mit dem Titel »Fotos Raccaro«, vor dem ein beachtlicher Stapel Ausdrucke aus dem Speicher von
Weitere Kostenlose Bücher