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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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in Lignano geschossen hatte. Lange Suchzeiten versprachen nichts Gutes.
    Laurenti hatte kurz vor zweiundzwanzig Uhr mit knurrendem Magen seinen Sohn Marco angerufen und ihn gebeten, einen Tisch für zwei Personen zu reservieren.
    »Antonio ist gestern Abend nach Hause geflogen.« Marietta atmete tief durch, nahm einen großen Schluck Wein – und lächelte. »Zurück nach Buenos Aires, Gott sei Dank.«
    »Und Bobo, der weiße Hase?«
    »Der ist bei mir. Er ist wirklich süß. Auf Befehl macht er sogar Männchen.«
    »Du und ein Haustier? Die Welt ist wirklich komisch. Wer ist das eigentlich, dein neuer Liebhaber?«
    Marietta zündete eine neue Zigarette an, tat zwei tiefe Züge und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Sie waren die einzigen Gäste, die sich trotz des strömenden Regens zum Abendessen unter einen breiten Sonnenschirm auf die Terrasse des Scabar gesetzt hatten, während die Speisesäle bis auf den letzten Platz besetzt waren. Doch Marietta wollte rauchen, und auch Laurenti bediente sich pausenlos ihrer Kippen. Seine Assistentin führte in ihrer riesigen Handtasche stets einen halben Hausstand mit, und Zigaretten en masse.
    »Versprich mir, dass du es niemand sagst.« Marietta schaute ihm prüfend in die Augen.
    »Ich schwöre es.«
    »Nun, ich habe ihn in Facebook wiedergefunden. Antonio war meine erste Liebe. Mit vierzehn.«
    »Der ist doch mindestens fünfzehn Jahre älter als du.«
    »Na und?«
    »Ein Dreißigjähriger war dein erster Freund? Den Altersdurchschnitt deiner Liebhaber hast du ja konsequent beibehalten.«
    »Ausnahmen sind die Würze.«
    »Hast du allen Ernstes gehofft, das könnte funktionieren? Nach so langer Zeit?« Laurenti lachte so laut auf, dass einige der Gäste, die zum Rauchen auf die Terrasse gekommen waren, sich nach ihm umdrehten. »Monatelang warst du unerträglich und hast wegen deinem Liebeskummer ein Gesicht gemacht, als wäre jemand gestorben. Was finden die Leute bloß an Facebook. Haben sie nichts anderes zu tun, als vor Langeweile dummes Zeug in den Computer zu tippen und alten Lieben nachzuspüren, während draußen das wirkliche Leben tobt?«
    »Liebeskummer war das nur kurz, Proteo. Anfangs war es richtig aufregend. Solange es virtuell blieb und wir uns jeden Tag geschrieben haben. Man vergisst so viel, was dann plötzlich wieder zum Vorschein kommt. Und als wir angefangen haben, uns Fotos zu schicken, wurde es geradezu lustig.«
    »Ich finde, er sieht aus wie eine Vogelscheuche, Marietta! Und wieso eigentlich Buenos Aires? Den Gerüchten zufolge arbeitet dein Lover im Staatsarchiv.«
    »Ja, früher, bevor er ausgewandert ist. Der Großteil seiner Familie war, wie viele andere, gleich nach dem Krieg emigriert. Nur er und sein Bruder wuchsen hier bei entfernten Verwandten auf. In Buenos Aires arbeitet er für einen Autoverleiher. Er lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen. Und er war schrecklich traurig.«
    »Das konnte er wirklich nicht verbergen. Aber du hast schließlich ein großes Herz.«
    »Antonio kam kurz vor Ostern nach Triest, weil sein Bruder gestorben ist. Natürlich habe ich ihn bei mir aufgenommen, bis er den ganzen Nachlass geregelt hatte. Und Bobo war das Tier seines Bruders, andere haben einen Hund oder eine Katze. Was hätte er mit ihm tun sollen?«
    »Braten, mit einer Möhre im Maul.«
    »Weißt du, Proteo, Antonio ging es ziemlich schlecht. Eswar sein letzter Verwandter. Nächtelang haben wir darüber geredet.«
    »Nur geredet also.« Laurenti winkte dem Kellner und bestellte eine weitere Flasche Wein. »Deiner Laune hat das ganz und gar nicht gutgetan. Woran ist sein Bruder denn gestorben?«
    »Er ist am Palmsonntag beim ehemaligen Grenzübergang Rabuiese mit Tempo hundertvierzig ungebremst auf das Bürogebäude geknallt. Die Zeitungen haben es lang und breit durchgekaut.«
    »Ich erinnere mich. Es wurde darüber spekuliert, ob es Selbstmord war. Hat der nicht auch für Raccaro gearbeitet?«
    »Nein, er war Anlageberater und Lele nur einer seiner Kunden.«
    »Das ist doch schon etwas«, sagte Laurenti.
    Marietta winkte ab. »Das habe ich mir auch gedacht und daraufhin nächtelang die Unterlagen durchgeforstet. Manchmal bis zum frühen Morgen, bevor das Material zum Nachlassgericht ging. Die großen Geschäfte hatte Lele jedenfalls nicht mit ihm abgeschlossen. Und einen Abschiedsbrief hat der Mann ebenso wenig hinterlassen, wie fremde Fahrzeugspuren an seinem Wagen zu finden waren. Das war ein Unfall – mehr oder weniger gewollt.

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