Keine Frage des Geschmacks
ihren vierundzwanzig Jahren schon als Fotografin bereist, doch Afrika hatte sie bisher strikt gemieden. Und trotz der vielen Erzählungen wollte sie Miriam nie nach Äthiopien begleiten, so dass auch ihre Mutter auf die Reisen verzichtete.
Aber immer, wenn sie alte Fotos von diesem Land betrachtete – in der Wohnung in Coleville Mews stapelten sich die Bildbände –, wuchs eine Wehmütigkeit in ihr. Obgleich die schrecklichen Bilder des Todes gegenüber der Schönheit der Landschaften, der Städte, dem Obeliskenfeld von Akhsum und dem Hochland dominierten. Selbst das mit Ornamenten reich verzierte Haus in Harar, in dem Arthur Rimbaud 1883 sich als Waffenhändler einquartiert hatte, zeigte unverhüllt die Greuel der Kriegsverbrechen der italienischen Kolonialisten, ebenso der Palast des Selassie – und bei Bahir Dar, am Tanasee, lagen Leichen nach einem Giftgasangriff auf dem verglühten Land am Ufer des blauen Nil, der dort seinen Ursprung hatte. Miriam hatte auch erzählt, dass ihr Großvater dem Thema stets ausgewichen sei, wenn sie ihn als Kind danach gefragt hatte. Sie wusste lediglich, dass er 1940 desertiert war und sich Partisanen im Westen des Landes angeschlossen hatte, die sich mit Waffen aus dem Sudan versorgen konnten. Anstatt ihre Fragen zu beantworten, schwärmte er davon, wie abwechslungsreich und üppig das Land einst war, in dem es der Hälfte der Bevölkerung heute an allem mangelte.
Candace hatte, auf dem Weg von der Questura in die Strada del Friuli, eine Pizza mitgenommen und zwei Flaschen Bier. Im strömenden Regen saß sie, von der ausgefahrenen Markise geschützt und den Laptop auf dem Schoß, kauend auf der Terrasse des schicken Appartements und starrte auf die Vergrößerung der Ablichtung, die sie im Büro der Inspektorin von dem alten Schwarz-Weiß-Foto geschossen hatte, als die beiden Polizisten sie einen Augenblick allein ließen, umetwas Vertrauliches zu besprechen. Ein mit Orden dekorierter, hochgewachsener und gut aussehender Mann in Uniform stützte sich auf einen Tisch, an dem Männer mit niedrigeren Dienstgraden saßen. Auch den handschriftlichen Titel auf der Rückseite des Bilderrahmens hatte Candace rasch fotografiert. »Amedeo d’Aosta 1939 in seiner Residenz in Addis Abeba mit Offizieren und Adjudant«.
Candace suchte einen neuen Bildausschnitt und vergrößerte den Tisch so lange, bis er den Bildschirm füllte. Es gab keinen Zweifel.
»Der Tisch. Unser Tisch«, murmelte sie ungläubig. »Mummy hat immer erzählt, dass der Urgroßvater ihn aus dem geplünderten Hauptquartier des Savoyers in Addis Abeba mitgebracht habe, als die Italiener nach ihrer Niederlage abgezogen waren.«
Dann verkleinerte sie die Fotografie wieder und fokussierte jedes der Gesichter. Es war Jahre her, dass Candace ein Foto von dem Mann gesehen hatte, mit dem die italoafrikanische Familienmischung ihren Anfang nahm, zu der sich später auch noch der englische Teil fügte, als hätten die beiden Kolonialmächte einst nicht gegeneinander um die Herrschaft in Ostafrika gekämpft. Die Aufnahme stand gerahmt in Miriams Schlafzimmer auf dem Nachttisch und zeigte Paolo und seine Familie. Das einzige Foto, das sie damals mitgenommen hatte, als Spencer sie nach London brachte. Großeltern, Eltern, die fünf Kinder und dazu noch Onkel und Tanten. Die Köpfe waren alle sehr klein, die einzelnen Gesichtszüge hatte sie sich nicht eingeprägt. Sobald sie zurück in London wäre, würde sie auch dieses Bild einscannen und vergrößern, so weit es ging.
Im Internet suchte Candace nach dem Befehlshaber und Vizekönig Ostafrikas und war überrascht über die vorwiegend positiven Beschreibungen des Mannes, der das Kommando über die faschistischen Truppen führte, die die Bevölkerunggnadenlos mit ihren Senfgasangriffen dezimierten. Doch die einschlägigen Websites bezeichneten ihn fast durchgängig als sogar vom Feind geschätzten Gentleman. Der Duca d’Aosta habe stets darauf bestanden, die Hierarchien flach zu halten. Er habe sich geweigert, eine Sonderrolle einzunehmen, und ließ sich nicht einmal als Königliche Hoheit anreden. Alle seine Biografen waren sich darin einig, dass er sehr volksnah war. Das machte ihn so beliebt. Ganz abgesehen von seinen exzellenten Flugkünsten.
Candace hatte die Pizza nicht einmal zur Hälfte gegessen und zündete sich einen Joint an. Dann schaltete sie erschöpft den Computer aus. War ihr Urgroßvater einer der Männer auf dem Bild? Wie hätte er sonst von dem Tisch wissen
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