Keine Frage des Geschmacks
Selvas Kamera lag.
»Was für Vorlieben diese Sphinx hat«, hatte Marietta gerufen, kaum dass der Kriminaltechniker ihr die Bilder aushändigte. Sie war damit sofort zu Laurenti geeilt, der dabei war, Aurelio Selva auszuquetschen. »Bist du dir sicher, dass ich diese Fotos auslegen soll? Alle Kollegen werden sie sehen.«
Laurenti blätterte den Stapel durch und fing an zu lachen. »Natürlich, Marietta! Wir ermitteln schließlich. Keine Geheimnisse, bitte! Und ich Esel dachte immer, diese Vittoria sei die einzige Transe in der Stadt.«
Um ein Haar hätte er die Blätter weggelegt, bevor er alle Fotos durchgesehen hatte. Beim Anblick der letzten sträubten sich ihm die Haare.
»Hier! Schau dir das an! Jetzt ist die Luke dicht. Ich fress einen Besen, wenn das nicht der dicke Deutsche ist, den die Hafenfeuerwehr aus dem Meer gezogen hat.«
»Birkenstock?«, fragte Marietta. »Verdammt, du hast recht. Und er knetet Vittoria durch.«
»Weißt du, wo das aufgenommen wurde?«
»Ein Boot.«
»Ein Zweimaster mit rostroten Segeln! Wie viele gibt es davon bei uns?«
»Die ›Greta Garbo‹.«
»Und Selva war dabei und hat fleißig geknipst. Schau auf das Datum, Marietta.«
»Also hat er Lele mit seinen Gespielinnen aufgenommen und auch Birkenstock mit Vittoria.«
»Und angefangen hat alles mit dieser Engländerin. Die Szenen, die wir nach dem anonymen Hinweis in Gazzas Wohnung gefunden haben. Der Informant kannte sich dort verdammt gut aus.«
»Aurelio Selva war bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr unter der gleichen Adresse in der Via dell’Eremo gemeldet. Du glaubst doch nicht etwa, dass er ihm die Sache eingebrockt hat und Gazza unschuldig ist?«
»Die Richterin will ihn morgen vernehmen, bevor die achtundvierzig Stunden abgelaufen sind. Noch eine Nacht im Bau kann nicht schaden.«
Auf der gegenüberliegenden Seite der in Hufeisenform angeordneten Tische breitete Pina Cardareto die Dokumente aus Aurelios Aktentasche aus, die sie in ihrem Büro vorsortiert hatte. Zuoberst lag, mit zersprungenem Glas, ein gerahmtes altes Schwarz-Weiß-Foto aus der Zeit des kolonialisierten Addis Abeba. Ein großer, schneidiger Befehlshaber stützte sich auf einen Tisch, in dessen Mitte das Savoyer-Wappen prangte. Ganz offensichtlich sprach er zu seinen Offizieren, deren aufmerksame Blicke auf ihn gerichtet waren. Unterhalb dieses Fotos lagen weitere Listen, die den zerrissenen aus Selvas Papierkorb glichen. Allerdings trugen sie handschriftliche Ergänzungen. Auf einem weiteren Blatt stand lediglich »Laptop Selva«. Das Gerät befand sich noch immer bei den Spezialisten, die darum bemüht waren, das Passwort zu knacken.
Die letzte Abteilung trug den Titel »Fotos Alberto«. Seine Kamera hatten die Spurensicherer im Park in den Zweigen eines Hibiscus syriacus gefunden, dessen purpurfarbene Blüten sich im Morgenlicht allmählich öffneten. Alberto war kein großer Fotograf. Häufig waren die Köpfe abgeschnitten oder die Aufnahmen unscharf. Doch einige waren klar und zeigten Aurelio Selva, der auf den Spuren von Miriam Natisone die Stadt durchstreifte.
Laurenti hatte sich den jungen Mann vorgeknöpft, der so alt war wie Livia – und wie Gemma. Trotzig saß ihm Aurelio Selva am fest im Boden verankerten Tisch in dem fensterlosen kahlen Raum gegenüber, dessen Wände mit abwaschbarer Ölfarbe in kaltem Grau gestrichen waren. Dem Blick Laurentis wich er konsequent aus.
Nach seiner Verhaftung vor Raccaros Wohnungstür hattenihn zwei Uniformierte zu Fuß zur Questura gebracht, für Aurelio war es ein Spießrutenlauf gewesen. Schon als sie im Erdgeschoss aus dem Aufzug traten, kam ihnen der Professor und Experte in Sachen Kriminalliteratur entgegen. Der kultivierte Mann hatte ihn, wie immer, wenn sie sich begegneten, freundlich lächelnd begrüßt und die Situation offenbar erst begriffen, als die schwere Haustür fast ins Schloss gefallen war. Man vernahm noch sein Murmeln: »In der Literatur sind Festnahmen spannender.«
Und auch der kurze Weg entlang des Teatro Romano war für Aurelio wenig erfreulich gewesen. Um die Touristen, die die Ruinen bestaunten, während in der Ferne der Donner grollte und die ersten schweren Regentropfen fielen, scherte er sich nicht. Dafür bekümmerte ihn der spöttische Gruß des Barkeepers nebenan, der natürlich umgehend seine Stammgäste von der Festnahme informierte, die es sich nicht nehmen ließen, Aurelio ein schönes Wochenende und gute Erholung zu wünschen.
Nach der
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