Keine Frage des Geschmacks
schreckte aus ihren Gedanken auf und setzte die Tasse ab, als Candace in die Küche kam und sich zu ihr an den Tisch setzte. Sie breitete die Fotos aus, die Fotomontagen neben die Originale, dann goss auch sie sich Kaffee ein.
»So, und jetzt will ich Jeanettes ganze Geschichte hören, von Anfang bis zum Ende. Du hast es mir versprochen.« Sie platzte vor Neugier. »Wenigstens hatte sie eine Menge Spaß, das ist unschwer zu erkennen: ein Gesichtsausdruck wie ein vom Weihrauch bekiffter Engel.«
»Okay.« Miriam lehnte sich zurück. »Jeanette habe ich durch ihren Mann kennengelernt. Es war vor acht Jahren im The Cock in der Fleetstreet, heute nennt es sich Old Bank of England Pub. Ein beliebter Treffpunkt der Broker, die sich dort nach Feierabend auf ein bis fünf Gläser trafen und mit ihren Tageserfolgen prahlten. Ich arbeitete an einer Reportage über diese seltsamen Typen. John McGyver war ein smarter Kerl, elegant gekleidet, intelligent und deutlich stiller als seine Kollegen, die lauthals übertrieben. Die dachten damals, mit ihrem Geld könnten sie alles kaufen. Und dann die Unmenge an Drinks, die sie mir spendierten und die ich heimlich in den Schirmständer schüttete! McGyver hörte sich an, was die anderen verzapften, um sich daraus dann einen Reim für seine Geschäfte zu machen. Ich war es, die ihn schließlich ansprach. Er sagte, er könne das Geschwätz der anderen sowieso nicht mehr ertragen, und lud mich ins Nobu zum Abendessen ein. Ein Edeljapaner in der Berkeley Street.«
»Soso«, rief Candace, »und dann hast du dich von ihm abschleppen lassen, ich mache jede Wette. Eine echte Hintergrundreportage!«
»Wart’s ab. Tags drauf gab er mir ein Interview in seinem Büro und machte mir so unverhohlene Komplimente, dassich’s drauf anlegte, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Doch er stand einfach auf, schloss die Bürotür ab, als wäre es Routine.«
»Und du schriebst natürlich Wort für Wort mit!«
»Mit Punkt und Komma. Es dauerte auf den Tag genau vier Wochen, dann brach er ein und sprach von seiner Frau.«
Paradoxurus hermaphroditus
Was allzu harmlos beginnt, mündet unweigerlich in die Katastrophe. Proteo Laurenti stand am Fenster und schaute auf den Canal Grande hinunter, während Nicola Zadar ihm so sachlich wie möglich die böse Überraschung darlegte. Der Kaufmann hatte sich längst wieder gefangen.
Der Dieb musste von einer athletischen und dennoch schmalen Konstitution gewesen sein. Zwei Kriminaltechniker waren dabei, seine Spuren in den Räumen des Triestiner Hauptsitzes der Firma in einem der neoklassizistischen Paläste am Canal Grande zu sichern. Drei dunkle Haare und eine winzige Blutspur an einem Fensterrahmen waren bisher der einzige konkrete Hinweis. Er hatte sich vom Dach im Hinterhof bis in den dritten Stock abgeseilt und war durch die Toilette eingestiegen, deren gerade mal zwanzig Zentimeter breites, gekipptes Fenster nicht ausreichend gesichert war. Man konnte es gar nicht oft genug predigen, nach dem Stuhlgang das Fenster zu schließen.
»Über den Dächern von Triest. Kaffee statt Brillanten. Das ist ja wie im Film«, kommentierte Laurenti eher gelangweilt. Die Details würden seine Leute aufnehmen. »Ein Fassadenkletterer! Und die dort unten drehen eine Szene, an der nichts stimmt. Schau nur mal, wie die falschen Polizisten gekleidet sind und wie sie sich bewegen.«
»Ich fürchte, der Zuschauer wird’s kaum merken, Commissario«, sagte Zadar. »Arbeitet deine Tochter nicht für die?«
»Livia? Du suchst nicht zufällig eine mehrsprachige Mitarbeiterin, auf die du dich blind verlassen kannst? Die Arme muss diese Chaostruppe koordinieren. Täglich fallen Entscheidungen, die alles über den Haufen werfen. Egal wie viel es kostet.«
»Wie in unserem Rathaus«, kommentierte Zadar unbewegt. »Das Geld der anderen. Doch bei denen dort unten müssen wir nicht nach den Dieben suchen. Seit vier Tagen drehen sie vor meiner Tür und sind restlos auf sich konzentriert. Manchmal muss ich warten, bis sie eine Szene abgedreht haben, um mein Haus betreten zu dürfen. Aber eigentlich sind sie okay. Gut, wenn unsere Stadt mal in Szene gesetzt wird, und zwar nicht durch negative Schlagzeilen.«
Gerade wieder hatte Triest es zweimal auf die ersten Seiten der überregionalen Presse geschafft: Zuletzt wegen des kompromisslosen Vorgehens der neuen Polizeipräsidentin, was die illegalen Einwanderer betraf, vorwiegend Afrikaner, die umgehend abgeschoben wurden, weil ihre Papiere
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