Keine Frage des Geschmacks
einfach beiseitereden. Das »Ministerium der Wahrheit« aus Orwells Roman versah seine Aufgabe realistischer, als der Autor es einst ahnte. Und sein »Ministerium der Liebe« zappte einen vorlauten Kritiker nach dem anderen weg. Sogar ein John McGyver, Jeanettes gehörnter Ehemann, musste plötzlich um seine Position im Topmanagement der Barclays-Bank kämpfen. In genau diesem Moment allerdingshatte sich seine überanstrengte, karrierebewusste Frau im ersehnten Urlaub »all inclusive« mit einem Gigolo vergnügt, der verstanden hatte, dass er damit einfacher zu Geld kam als durch harte Arbeit. Wie viele Frauen hielten ihn wohl mehr oder weniger freiwillig über Wasser?
Sieben Haltestellen und zwanzig Minuten später stieg sie in Bayswater aus. Wie immer, wenn sie diesen Ausgang nahm, ärgerte Miriam sich über das »Museum of Brands, Packaging and Advertising« – der private Gründer musste bereits in seinen Jugendjahren wie ein Drogensüchtiger den Weltmarken verfallen sein und hatte diese Leidenschaft kontinuierlich gepflegt: Kellogg’s, Nestlé, Vodafone, Barclays Bank, Shell, Esso, British Petroleum, Chiquita, Dole und wie sie alle hießen. Wie viele von denen zogen, obgleich es offiziell längst keine Kolonien mehr gab, immer noch gigantische Profite aus den afrikanischen Ländern, während die einheimische Bevölkerung unter Hungerkatastrophen und Kriegen krepierte? Sie hatte das Elend am eigenen Leib erfahren und war nur durch Glück dem Tod entkommen, während ihre Eltern und der jüngste ihrer drei Brüder es nicht geschafft hatten. Und Starbuck’s hatte erst vor kurzem versucht, den äthiopischen Kaffeebauern die Markennamen »Yrgacheffe« und »Sidoma« ihrer besten Anbaugebiete zu stehlen. Erst nach langem Hin und Her und dank der massiven Proteste und PR-Kampagnen zahlreicher Hilfsorganisationen lenkte der multinationale Konzern halbherzig ein.
Nur ein paar Schritte waren es noch zur Colville Mews, wo Miriam mit ihrer Tochter in der kleinen Wohnung lebte, die sie geerbt hatten, als Candace acht Jahre alt und Nottinghill noch kein In-Viertel war.
Sie warf den Mantel über einen Stuhl und trocknete sich im Bad flüchtig das kurze Haar.
»Bist du da, Candy?«, rief Miriam. Nach dem Geruch desJoints zu schließen, der in der Wohnung hing, war die Frage überflüssig.
Candace war vor ein paar Tagen erst von einer dreimonatigen Reise zurückgekehrt, Pandschab, Pakistan, Kabul, Iran, Irak, Syrien, Türkei. Sie saß vor dem Bildschirm ihres Computers und bearbeitete die Fotos, die sie mitgebracht hatte, und beklagte sich wie immer über den Archivierungsaufwand. Sie war zu unruhig in ihrem Wesen, als dass sie es stundenlang auf einem Bürostuhl aushielt, um administrative Arbeiten zu verrichten. Candace war in ihrem Element, sobald sie reisen konnte. Darin glich sie ihrem Vater.
»Ciao, Mummy.« Ihr Teint war noch heller als der ihrer Mutter, und den dichten Schopf ihres schwarzen langen Kraushaars hatte sie mit einem bunten Tuch gezähmt, das ihr über die Schulter fiel. Ihre Stimme war leise und sie schaute kaum auf, die Adern auf dem Rücken ihrer schmalen linken Hand, mit der sie die Mouse führte, waren hervorgetreten. »Ist alles okay?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Miriam und nahm einen tiefen Zug von dem Joint, den sie Candace aus den Fingern stibitzt hatte. »Oder besser zwei.«
»Jeden. Was brauchst du?«
»Als erstes musst du schwören, dass du sofort vergisst, um was und wen es sich dreht, die Sache ist mehr als delikat.«
Candace hob belustigt die Hand.
»Zweitens: Ich habe hier ein paar echte Fotos, die so bearbeitet werden müssen, dass sie wie fast perfekte Fotomontagen wirken. Aber nur fast perfekt. Und die intimen Stellen sollten natürlich abgedeckt werden.«
Noch zeigte sie ihr die Fotos von Jeanette nicht, obgleich Candace mit den Fingern schnipste. Miriam nahm noch einen Zug und gab ihr lachend den Joint zurück.
»Ganz schön neugierig, Kleine!«
Als sie die Fotos ausbreitete, brach ihre Tochter in hellesGelächter aus. »Wow, ausgerechnet die! Das ist wirklich der Hammer! Die geht doch regelmäßig zur Messe.«
»Das gehört zum Job.«
»Oh my God! Da geht’s aber mächtig zur Sache. Schau bloß, wie sie sich die Hostie auf der Zunge zergehen lässt, ganz wie eine strenggläubige Ordensschwester. Zu schade, dass ich das verdecken soll. Woher kennst du sie eigentlich?« Sie blätterte die Fotos durch. »Hast du die Fotos ausgesucht,
Weitere Kostenlose Bücher