Keine Frage des Geschmacks
kluge Idee. Sie kann dir die richtigen Medikamente verschaffen, die helfen vielleicht.«
»Gegen Bluthochdruck, Dottore.«
»Wie geht es eigentlich deiner Enkelin? Und der jungen Mutter?«
»Beide sind kerngesund, Galvano, und die Kleine ist unglaublich vital und immer guter Laune. Wenn ich nach Hause komme, strahlt sie übers ganze Gesicht.« Auch Laurenti strahlte.
»Sie kennt dich ja erst seit kurzem. Ich komme sie mir mal ansehen.«
»Patrizia hat schon wieder angefangen zu arbeiten, meine Schwiegermutter kümmert sich um die kleine Barbara. Du kannst ihr Gesellschaft leisten.«
»Ach? Lauras Mutter ist zu euch gezogen? Kein Wunder, dass du ständig deine Hausärztin konsultierst.«
Zu Hause hatte sich viel verändert. Die Familie war größer geworden, die weibliche Mehrheit im Hause Laurenti hatte überproportional zugenommen, und Lauras Mutter dominierte die Abläufe im Haus. Die rüstige alte Frau wurde als Babysitterin gebraucht, und außerdem hatte Laura schon lange davon gesprochen, dass ihre Mutter nun nicht mehr allein leben sollte – und nicht einmal Proteo Laurenti wäre aufdie Idee gekommen, sie ins Altersheim abzuschieben. Nach dem Anbau im vergangenen Frühjahr war das Haus schließlich groß genug, und im Sommer boten die Terrassen, die zum Meer hinabführten, ausreichend Platz für alle.
Laurenti warf ein paar Münzen auf den Tresen und suchte nach einer Ausrede, um sich aus dem Staub zu machen, bevor Galvano seinen Vermutungen völlig freien Lauf ließ. Wenn man ihn einmal nicht brauchte, dann tauchte er natürlich auf, und vor seiner Geschwätzigkeit fürchteten sich nicht nur seine Freunde.
*
Im Büro kam Laurenti endlich dazu, die Tagespresse durchzublättern. Die Viertelstunde war ihm heilig. Erst nach diesem Ritual war er bereit, Mariettas Bericht über die Vorgänge in den anderen Abteilungen anzuhören. Dem »Piccolo« entnahm er, dass sechs neue Einkaufszentren in der Stadt errichtet werden sollten, so die einmütige Verlautbarung aus Rathaus und Handelskammer. Dabei litt der Einzelhandel seit geraumer Zeit, und seit Beginn der Wirtschaftskrise mussten selbst alteingesessene Geschäfte dichtmachen. Leles Porträtfoto prangte inmitten des Artikels, er wurde als die treibende Kraft der Projekte dargestellt.
»Marietta!«, rief Laurenti ins Vorzimmer hinüber, »hast du Raccaro vorgeladen?«
Ihre Antwort kam spät, aber entschieden: »Nein.«
»Und warum nicht?«
»Das bringt nur Scherereien, sag das der Staatsanwältin, sie ist schließlich noch neu in der Stadt.«
»Dann erfinde einen Vorwand, bis vor kurzem hattest du vor nichts Skrupel. Schon gar nicht vor schrägen Vögeln, vor allem nicht, wenn sie zwanzig Jahre jünger waren als du. Mach endlich den Termin aus, Anweisung der Staatsanwältin.«
»Ruf ihn doch selbst an!«
Seit gut drei Monaten hatte Marietta sich verändert. Ihr Diensteifer und die eifersüchtige Sorge um ihren Chef – wie oft hatte sie in all den Jahren gemeinsamer Arbeit betont, dass sie länger an Proteos Seite sei als dessen Ehefrau? – waren einer überzogenen Pünktlichkeit gewichen. Früher hatte sie schon einmal auf sich warten lassen, wenn sie gerade ihren Lippenstift nachzog, frisches Make-up auflegte oder im Büro die Nägel lackierte, doch inzwischen vernachlässigte sie ihre Erscheinung immer mehr. Ihr famoses Dekolleté, das die Blicke der Männer jeglichen Alters anzog wie der Nordpol die Kompassnadeln, hatte sich trotz der Außentemperaturen immer höher geschlossen, und mit den Besuchen einiger Kollegen, die unter fadenscheinigen Vorwänden manchmal bei ihr aufgetaucht waren, um einen Blick in die Abgründe zu werfen, war es auch vorbei. Beim Friseur war sie seit Wochen überfällig. Und jedes Mal, wenn Laurenti sie über die Bürozeiten hinaus brauchte, bedurfte es deutlicher Worte, denen Marietta nur widerwillig nachkam. Einmal hatte sie sogar mit der Gewerkschaft gedroht. Das waren völlig neue Töne, über die Laurenti nicht einmal mehr mit der Wimper zuckte, nachdem er sie zweimal in Begleitung eines unscheinbaren, ergrauten Mannes im biederblauen, viel zu engen Anzug gesehen hatte, der ein weißes Häschen mit rosafarbenem Näschen im Arm trug, das Marietta zur Begrüßung lächelnd streichelte und Bobo nannte. Im Bett mussten die beiden einmalig sein, wenn sie Marietta nicht einmal mehr die Zeit ließen, ihr Äußeres zu pflegen.
»Gut zu wissen, wer hier der Chef ist«, maulte Laurenti. »Dann trag mir wenigstens
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