Keine Frage des Geschmacks
Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer rief. Wenn er das geahnt hätte, dann hätte er vermutlich versucht, den Blutsauger an seinen Genitalien selbst zu entfernen.
Wie immer entzückte ihn ihr Anblick, als sie nun auf ihn zustürmte, einen raschen Blick über die Schulter warf und sich dann auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen schnellen Kuss gab. Sie war sommerlich leicht gekleidet, wobei sie ein wunderbares Talent hatte, Stoffe in zarten Farbtönen und sonnengebräunte Haut so adrett zu kombinieren, dass es nie obszön wirkte und trotzdem sich alle nach ihr umsahen. Die Frauen sowieso.
»Nur zehn Minuten, Proteo«, sagte sie, lief an den Tresen der nächstgelegenen Bar und rief der Signora, die eine Reihe Untertassen mit geschäftigem Geschirrklappern bereitstellte und mit Löffelchen versah, ihre Bestellung zu. »Das Wartezimmer ist voll, ich muss gleich zurück.« Ihre Zähne blitzten weiß, und ihre Lippen hinterließen einen karminroten Abdruck am Rand der Espressotasse. »Hast du hier zu tun?«
»Ein Einbruch in den Geschäftsräumen eines guten Freundes. Morgen steht’s dann in der Zeitung.« Laurenti streichelte verstohlen ihren nackten Oberarm, seine Augen leuchteten.
»Bist du am Abend frei?«, flüsterte Gemma. »Ich schließe die Praxis um sieben.«
»Ich kann’s kaum erwarten. Was hältst du von einem Sprung ins Meer?«
Er verstummte schlagartig, als sich der Eingang verdunkelte, ein Greis mit einem schwarzen Hund das Lokal betrat und geradewegs auf die beiden zusteuerte.
»Wie geht es deinem Vater, Gemma?«, fragte der alte Galvano. Der hagere Mann mit dem riesigen Schädel auf dem dürren Hals überragte Laurenti um fast einen Kopf. »Es ist lange her, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.«
»Er ist segeln, macht einen Törn in der Ägäis. Seit Ostern schon.«
»Griechenland ist preiswert geworden. Deine Mutter hab ich erst gestern in der Stadt gesehen. Er ist doch nicht etwa allein unterwegs?«
Gemma lachte hell auf. »Garantiert nicht. Mamma ist natürlich hier. Es ist schließlich stadtbekannt, dass sie seit Jahren eine Affäre mit dem Steuerberater hat. Und ich verwette ein Jahresgehalt, dass auch der alte Pier Mora alles andere als alleine auf dem Schiff ist. Geld hat er genug, und ein Heiliger war er noch nie.«
»Ja, und im Bridge-Club lässt er sich auch nicht mehr sehen, weil er immer verliert.«
»Genau das hat er von Ihnen auch immer gesagt, Galvano. Ich werde ihn von seinem treulosen Freund grüßen. Kollegen kann man euch ja nicht gerade nennen. Mein Vater hat schließlich sein Leben lang daran gearbeitet, dass seine Patienten nicht bei Ihnen landen.«
Galvanos Blick verriet, dass der Schlag gesessen hatte. Gemma warf einen hektischen Blick zur Uhr über der Kaffeemaschine und zwinkerte Laurenti zu. »Ich muss los, meine Patienten warten.«
»Dieses Problem hatte ich Gott sei Dank nie«, raunzte der pensionierte Gerichtsmediziner zerknirscht. Beide schauten der zierlichen Frau nach, deren pechschwarze schulterlange Locken bei jedem ihrer federnden Schritte fröhlich wippten. Vom Eingang winkte sie ihnen noch einmal zu.
»Das hat natürlich nur dir gegolten«, keifte der Alte. Laurenti kannte ihn, seit er in Triest mit der Aufklärung der Gewaltverbrechen beschäftigt war. Galvanos medizinisches Wissen, seine Lebenserfahrung sowie sein erbarmungsloser Blick auf die Menschen, der so scharf sein konnte wie die Skalpelle und Knochensägen, die er bei den Obduktionen verwendete, waren oft eine Hilfe gewesen – sein Zynismus hingegen meist schwer zu ertragen. Trotzdem war er ein guter Freund der Laurentis und hatte nach dem frühen Tod seiner Frau über viele Jahre die Feiertage bei ihnen verbracht.
»Hast du heute etwa Freigang? Man sieht dich kaum noch«, sagte Laurenti. »Oder stimmt die Liebe nicht mehr?«
Trotz seiner fünfundachtzig Jahre befand sich der ehemalige Gerichtsmediziner wieder in festen Händen. Raissa hieß die blonde Russin, ein Vierteljahrhundert jünger als er und früher angeblich eine Primaballerina des Bolschoi-Balletts, wobei von ihrer Grazie nur wenig übriggeblieben war. Selten ließ sie den Alten aus den Augen.
»Sie ist beim Friseur. Aber was treibst du eigentlich so, Laurenti? Auffällig, wie oft du dich mit Gemma triffst, dabei bist du doch doppelt so alt wie die Kleine. Und seit kurzem sogar Großvater! Hast du keine Skrupel, mit einer so jungen Frau zu turteln? Eine Ärztin zur Geliebten zu haben, ist natürlich eine
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