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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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deine Liste vor.«
    Stoisch las Marietta die kargen Ereignisse der letzten Nacht vom Blatt. Eine Rotte Wildschweine hatte die Vorgärten der Villen in der Via Romagna umgepflügt. Seit Wochen gab es einen erbitterten Medienkampf zwischen Gutmenschen undder Landwirtschaftsbehörde über dieses neue Zivilisationsphänomen. Die einen forderten den Massenmord, die anderen spielten sich als Tierschützer auf und klagten, dass mit der Jagdfreigabe auf die Viecher zugleich die zivilisatorischen Errungenschaften Mitteleuropas abgemurkst würden. Was auch immer sie darunter verstanden! Einmal war eines der Tiere sogar auf der Piazza Unità vor dem Rathaus gesichtet worden und hatte die Menschen in den Straßencafés aufgeschreckt. Doch niemand sollte erfahren, welches Anliegen es beim Bürgermeister vorzubringen gedachte. Über tausend Wildschweine streiften angeblich im Umland umher – eine sehr lange Jagdsaison war angebrochen, und die Waldhüter trugen doppelläufige Remington-Gewehre vom Kaliber sieben.
    Dann berichtete Marietta von den Klagen über nächtliche Ruhestörung in einigen Straßenzügen des Zentrums.
    »Was haben die Leute bloß?« Laurenti schüttelte den Kopf. »Als hätten wir nichts Besseres zu tun.«
    Umso lauer die Nächte waren, umso häufiger trafen Anrufe bei Polizei und Carabinieri ein, in denen sich das gelangweilte Bürgertum beschwerte. Fenster auf, Klimaanlage an, die TV-Fernbedienung in der Hand. Vermutlich übertönte das Stimmengewirr draußen die Lautstärke der Fernsehwerbung.
    »Eine Auswertung des Streifendienstes hat ergeben, dass die Anrufe nicht, wie unterstellt, von den Rentnern kommen.« Marietta wedelte mit einem Blatt. »Die Beschwerden kommen vorwiegend von Leuten um die fünfzig. Da staunst sogar du!«
    »Und weshalb sitzen die frustriert zu Hause herum, anstatt sich darüber zu freuen, dass in ihrer Stadt was los ist, jener Stadt, von der sie ständig das Gegenteil behaupten?« Laurenti war fest davon überzeugt, dass die Nörgler bis vor ein paar Jahren ebenfalls auf der Piazza gelacht, getanzt und getrunken hatten.
    »Ich kann sie ganz gut verstehen«, sagte Marietta und erhob sich. »Wer sich mit ernsteren Dingen befasst, hat keine Lust, sich diesem oberflächlichen und albernen Getue da draußen auszusetzen.«
    »Oculus non vidit, nec auris audivit.«
    »Was?«, Marietta drehte sich in der Tür um.
    »Was das Auge nicht gesehen noch das Ohr gehört hat. Übersinnliche Wahrnehmungen, Marietta!«
    »Ich habe alles gehört und alles gesehen.« Sie zog die Tür ins Schloss.
    Er würde Lele nun selbst anrufen müssen, auch wenn seine Assistentin mit ihrer Warnung vermutlich recht hatte.

Hoffnungsträger
    Die richtigen Menschen am richtigen Platz nannte man nicht ohne Grund Hoffnungsträger. Raffaele Raccaro plazierte sie, wo immer es ihm gelang. Bei der Besetzung der Schlüsselpositionen in Stadt und Region hatte er seinen Einfluss geltend gemacht, obwohl er dazu niemals öffentlich aufgetreten war. Man munkelte, dass seine Kandidaten bei Amtsantritt sogleich undatierte Rücktrittserklärungen unterzeichneten, die in Leles Safe verwahrt wurden. Dank seines unstillbaren Hungers nach Macht und Einfluss hatte er sich schon in jungen Jahren aus ärmlichen Verhältnissen nach oben gearbeitet. Heute umfasste sein Imperium Supermärkte und Anteile an Einkaufszentren auf der grünen Wiese, eine Agentur für Zeitarbeit sowie andere Dienstleistungsbetriebe, ein immenses Bildarchiv, von dem auf der Website behauptet wurde, es handle sich um die weltweit größte Sammlung an Kriegsfotografien in privater Hand. Finanzbeteiligungen an weiteren Unternehmen rundeten sein Engagement ab. Die Führungspositionen all dieser Firmen hatte er mit ehrgeizigen, meist alleinstehenden Frauen besetzt, die deutlich besser bezahlt wurden als ihre männlichen Kollegen anderswo, woraus er keinen Hehl machte, ebenso wenig wie aus der Tatsache, dass alle, die nicht spurten, ruck, zuck rausflogen. Doch auf die Damen war Verlass, sie leiteten die Firmen seines Imperiums mit eiserner Hand und waren dem Chef ergeben.
    Raffaele Raccaro, den alle nur Lele nannten, war ein Nimmersatt. Ein vitaler, spindeldürrer Mann von zweiundsiebzig Jahren, die man ihm nicht ansah. Er lümmelte auf einem riesigen himmelblauen Sofa, dessen Polster ihn zu verschlingen schienen. Seine geringe Körpergröße, die er mit Putin, Berlusconi, Sarkozy und Bernie Ecclestone gemein hatte, versuchteauch Lele vergebens mit eleganten

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