Keine Frage des Geschmacks
habe, ist es schon schlimm genug. Deswegen also geht in der Stadt nichts voran. Ich bin erschüttert.«
»Das sind die schmutzigen Tricks von heute, Margherita. Man erwirbt Minderheitsbeteiligungen an Unternehmen, fährt sie in den Dreck und kauft nachher den Rest zum Abschreibungswert auf. Ich mache jede Wette, dass sie diese Technik auch anderswo einsetzen. Und dass sie über die Expó Milano 2015 redeten, überrascht auch nicht. Dort werden Milliarden bewegt. Laurenti hat erzählt, dass Raccaro einer derjenigen war, die damals die Bewerbung Triests hintertrieben haben. Die Jurymitglieder des Prüfungskomitees wurden vor der Endausscheidung mit anonymen Briefen voller unhaltbarer Anschuldigungen überzogen.«
»Und dann hat Zaragoza gewonnen.«
»Unwahrscheinlich, dass so schnell eine zweite italienische Stadt erneut zum Zug gekommen wäre. In Mailand lässt sich eben mehr verdienen als hier.«
»Und Raccaro?«
»Nach dem, was ich begriffen habe, ist er so etwas wie ein Vermittler, der seinen Partnern von heute Abend ins Geschäft helfen soll.«
Beim ersten Drink schaute sich Gilo Battinelli die Fotos an, die Margherita über die linke Armbeuge geschossen hatte. Nur auf zweien waren alle Köpfe zu sehen. Er müsste die Bilder im Büro vergrößern, auf dem kleinen Display erkannte er keinen der Männer. Und wenn der Computer nach der Bildanalyse die Namen von Raccaros Geschäftspartnern ausspuckte, dann wäre die Sache sogar für den Commissario zu groß. Sollte dann, auf welchem Weg auch immer, das Ministerium von einem Verfahren gegen Raccaro Wind bekommen, hätte Laurenti das Nachsehen, denn niemand konnte vorhersagen, ob und wann der Fall dann zur Aufklärung käme. Manchmal wurde eine Form von Staatsräson vorgeschoben, die dem normalen Bürger unverständlich blieb.
»Und sag noch einmal, dass ich keine gute Undercoveragentin bin«, scherzte Margherita schließlich. »Aber jetzt ist Dienstschluss.«
Cavana
Alle paar Meter drehte sie sich um. Manchmal meinte sie, unter den vielen Menschen ihren Verfolger auszumachen. Sicher war sie sich nicht, doch ihr Instinkt trieb sie zur Flucht. Zu viele Menschen waren unterwegs. Auch nach Mitternacht standen die Gäste noch dicht gedrängt vor den Kneipen und verstopften die engen Gassen der Cittavecchia. Ihre Gesichter nahm sie kaum wahr. Flink schlängelte sie sich durch die Menge, doch immer wieder versperrte ihr ein breiter Rücken den Weg, so dass sie Haken schlagen musste und wertvollen Vorsprung verlor. Ihr Puls raste, sie schwitzte und zwang sich zur Ruhe. Die Panik durfte ihr nicht den Verstand rauben. Die Kontrolle zu verlieren hieße, sich nicht wehren können, sollte es dem Kerl gelingen, ihr trotz des Gedränges auf den Leib zu rücken. Die schlanke hochgewachsene Frau, deren kurzgeschnittenes, feuerrot gefärbtes Haar in merkwürdigem Kontrast zu ihrem Teint von hellem Bernstein stand, zog die Blicke auf sich, und ihr wohlproportionierter Körper provozierte Kommentare der jungen Männer, die sie nicht wahrnahm. Einmal zeigte ein Betrunkener auf sie und lallte: »Grace Jones mit Dachstuhlbrand.«
Im Stadtzentrum sank die Temperatur trotz der späten Stunde kaum unter dreißig Grad, dafür war eine leichte Brise aufgezogen, die das Atmen erleichterte. Vor den Bars in der Cavana, deren Straßenzüge adrett renoviert worden waren, tobte das Leben wie in jeder Sommernacht bis in die frühen Morgenstunden. Wie einst, als die Seeleute noch in dieses Viertel drängten, die Bordelle aufsuchten und sich in den Spelunken betranken. Bevor die Gassen über Jahrzehnte in Trostlosigkeit versunken waren, von der man nun nichtsmehr spürte. Das sommerliche Nachtleben fand jetzt hier oder am Lungomare statt. Dumpf drangen die Klänge der Musik aus den Kneipen heraus auf die Altstadtgassen und vermischten sich mit dem Stimmengewirr und Gelächter. Fröhliche Ausgelassenheit, die den Sommer über anhalten sollte. Jede Bar hatte ein anderes Publikum, das seine eigenen Vorlieben pflegte. Studenten, die den ganzen Tag am Strand verbracht hatten und heimlich kifften, dafür weniger Alkohol konsumierten; Büroangestellte, die den Alltagsfrust mit Bier und Wein bekämpften; Jungunternehmer mit der Vorliebe zu exotischen Cocktails; dann die Älteren, die sich in sinnlose politische Diskussionen verstrickten und kaum einmal lächelten. In den Morgenstunden strotzte das Pflaster dann vor Abfällen, Kaugummi, Kippen, Plastikbechern und Bierdosen, deren Reste klebrige
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