Keine Frage des Geschmacks
ihr kaum bis zur Schulter reichte. Sie konnte ihr Staunen über Miriams Erscheinung nur schlecht verbergen: rotes Haar, rotes Kleid, türkisgrüner Lidschatten und ihr dunkler Teint. Miriam taxierte sie und wartete, bis die deutlich jüngere Frau ihr einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtischs zuwies,während sie die Fotos einer übergewichtigen Männerleiche zwischen zwei rote Aktendeckel schob. Miriam setzte sich und hielt den Blick auf sie gerichtet.
»Ihren Ausweis, bitte«, sagte die Inspektorin und lehnte sich, nachdem sie das Dokument aufmerksam studiert hatte, in ihrem Stuhl zurück. »Haben Sie die Haare umgefärbt? Auf diesem Foto sind sie wasserstoffblond.«
Miriam nickte.
»Nun erzählen Sie mal.«
Miriam ahnte nicht, dass der Verfolger sofort von ihr abgelassen hatte, als sie in die bevölkerten Gassen der Cittavecchia gelaufen war. Und ebenso wenig ahnte sie, dass er genau wusste, wo und wann er sie finden würde.
Die Inspektorin hatte nur wenige Fragen gestellt, ihre Schilderungen mit zwei Fingern in den Computer getippt und, als Miriam ausgiebig gähnte, vorgeschlagen, dass sie sich tags drauf um vierzehn Uhr wieder einfinden sollte, um sich Fotos aus der Datenbank anzusehen. Als Miriam Namen und Adresse ihres Verfolgers nannte, hatte sie nicht einmal mit der Wimper gezuckt und die Angaben ins Protokoll getippt.
Diese Regungslosigkeit auf den Gesichtern der Ermittler kannte Miriam aus London, wo sie in einigen Fällen als Zeugin befragt worden war. Eine Verhaltensregel, die wahrscheinlich zur Standardausbildung der Weltpolizei gehörte. Wenig beruhigend für die Opfer, die auf Anteilnahme, Bestätigung, Sorge und sofortiges Handeln hofften.
Ein Streifenwagen brachte Miriam gegen zwei Uhr in ihr neues Quartier. Die beiden Beamten inspizierten zuerst die Sicherheitsschlösser und anschließend das schicke Appartement in der »Villa Sottolfaro« in der Strada del Friuli. Die Männer rümpften unverhohlen die Nase, weniger weil der puristische Baustil nicht ihrem Geschmack entsprach, sondernweil sie der Meinung waren, dass die zum Meer hin verglaste Fassade wenig Schutz bot.
Miriam saß im Dunkeln auf der Terrasse und hatte einen Laptop auf den Knien, dessen Bildschirmbeleuchtung ihr Gesicht aschfahl erscheinen ließ. Das Adrenalin beschleunigte ihren Herzschlag. Gleichwohl sie schon um sechs Uhr am folgenden Morgen eine Verabredung hatte, hämmerte sie hastig den Text in den Computer, ihre Tochter Candace und Jeremy Jones, Jeanettes Londoner Anwalt, mussten über den Verlauf ihres Aufenthalts in dieser merkwürdigen Stadt detailliert Bescheid wissen. In welches Wespennest hatte sie eigentlich gestochen?
Immer wieder unterbrach sie für längere Augenblicke ihre Aufzeichnungen und schaute von oben herab auf die matten Lichter des Alten Hafens und der Stadt. In regelmäßigem Takt schweifte der Scheinwerfer des weißen Leuchtturms über sie hinweg und warf seine Lichtblitze auf die Adria hinaus. Draußen lagen drei Frachtschiffe und zwei Öltanker auf Außenreede, einmal sah sie den hellen Bug eines Schiffs der Küstenwache durch das nachtschwarze Meer pflügen, das eine weiße Gischtspur hinter sich herzog.
*
Im Putz an den Wänden des engen Treppenhauses in der Colville Mews waren die Löcher noch heute zu sehen, die der Tisch aus Edelholz hinterlassen hatte, als er seine lange Reise von Äthiopien nach London hinter sich hatte und von fluchenden Männern in den dritten Stock manövriert wurde. Ebenso wie ihre Mutter es getan hatte, plazierte Miriam die Kaffeekanne auf dem Savoyer-Wappen aus Intarsien von Schildpatt, Perlmutt und farbigen Steinen, das sich in der Mitte des Tisches befand.
Es war das einzige Erinnerungsstück an ihre Eltern und den jüngeren Bruder, die die Hungersnot nicht überlebt hatten. Und vermutlich hätte sie dieses Schicksal geteilt, wenn Spencer Elliot sie nicht mit nach London genommen hätte. Über alle möglichen Kanäle hatte er Geld nach Jimma geschickt, um die Familie zu retten. Nur zweimal war es angekommen. Als die Lage im Land sich immer weiter verschlechterte, kamen überhaupt keine privaten Hilfsmittel mehr durch. Und kaum Nachrichten. Die Funktionäre im Regime hatten alles gefilzt – und überlebt. Ebenso wie der Diktator genossen einige von ihnen nun ihr Asyl in Simbabwe unter dem Schutz von Robert Mugabe.
Erst als Spencer zwei Jahre später noch einmal zu einer Reportage nach Äthiopien aufbrach, brachte er die
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