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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Pfützen bildeten. Am nächsten Tag würden die Straßenkehrer vermutlich wieder nicht zum Einsatz kommen, man müsse sparen, war aus dem Rathaus zu hören. Dafür brummte die Stadtregierung all jenen fünfhundert Euro Bußgeld auf, die ihr Geschäft im Freien verrichteten. Jede Nacht wurden Männer wie Frauen von den städtischen Vollzugsbeamten beim Pinkeln auf offener Straße erwischt – zumindest stand es so in der Zeitung.
     
    Bei der nächsten Querstraße hoffte sie auf ein Taxi, das sie in Sicherheit bringen würde. Vergeblich. Mühsam kämpfte sie sich durch das dichte Getümmel vor der Bar Unità, und auf der großen Piazza rannte sie los. Zur Questura waren es noch ein paar hundert Meter, dort wäre sie gerettet. Doch eine Reihe Lieferwagen eines Filmteams, deren Scheinwerfer auf den »Brunnen der vier Kontinente« gerichtet waren, versperrten ihr den Weg. Sie lief durch die Torbogen des Rathauses und bereute es sofort. Keine Menschenseele befand sich auf dem dunklen Largo Granatieri, an dem die Gebäude der Stadtverwaltung lagen. Ihre Schritte hallten durch dieStille der Nacht, wurden von den Hauswänden zurückgeworfen, als spendeten die schwarzen Fenster verhaltenen Applaus. Nun geriet Miriam außer Atem, Schweißperlen rannen ihren Hals hinunter, und das eng anliegende feuerrote Kleid zeigte dunkle Flecken. Sie drehte sich panisch um und versuchte den Kerl auszumachen, der hinter ihr her war. Wenn er ahnte, dass sie das Polizeipräsidium erreichen wollte, brauchte er sie nur kurz davor abzupassen. Sie war darauf gefasst, dass er eine Seitenstraße genommen hatte, um ihr hinter der nächsten Ecke aufzulauern. Sie musste schneller sein. Miriam rannte um ihr Leben, und als plötzlich zwei Scheinwerfer vor ihr aufleuchteten und ein Mann aus dem Wagen sprang, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Erst dann erkannte sie, dass es ein uniformierter Beamter der Polizia di Stato war.
    »Da, da, der Mann im weißen Hemd!« Aufgeregt zeigte sie ins Dunkel hinter sich. Sie keuchte und brachte kaum einen Satz heraus. Sie fasste den Polizisten am Arm. »Er will mich umbringen!«
    Nun sprang auch der zweite Beamte aus dem Streifenwagen und lief ein paar Meter die Straße hinunter. Bereit, jederzeit seine Waffe aus dem Holster zu ziehen, umkreiste er ein paar Müllcontainer, blickte in Hauseingänge und Seitenstraßen und unter die geparkten Autos. Nichts. Dann kam er zurück und sprach ins Funkgerät. In wenigen Sätzen beschrieb er den Vorfall und gab, den gehetzten Worten Miriams folgend, die Personenbeschreibung durch, damit andere Streifen nach dem Verfolger Ausschau halten konnten. »Zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt, eins fünfundachtzig groß, durchtrainiert, schwarzes mit Gel zurückgekämmtes Haar, fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang. Weißes, kurzärmliges Hemd, beige Jeans.«
    »Von denen gibt es Tausende heute Nacht«, knarrte die Stimme aus dem Lautsprecher.
    »Noch etwas!«, rief sie. »Eine schwere Goldkette trägt er um den Hals mit einem großen roten Stein daran.«
    Miriam lief ein kalter Schauer über den Rücken. Im China-Restaurant hatte sie den Kerl erst bemerkt, als sie sich umwandte, um der Kellnerin zu winken. Unverhohlen hatte er sie angestarrt, als wäre sie ein Gespenst. Trotz ihrer Verwandlung musste er sie erkannt haben. Warum sonst war er ihr gefolgt, als sie das Lokal an der Piazza Venezia verlassen hatte?
     
    »Da ist aber niemand«, sagte der zweite Uniformierte schließlich. »Beruhigen Sie sich. Wir nehmen ein Protokoll auf, und Sie schauen sich ein paar Fotos an. Mit etwas Glück werden wir ihn rasch finden.« Er hielt Miriam die Tür zum Fond des Streifenwagens auf, nach kurzem Zögern stieg sie ein. Routinemäßig lag seine Hand für einen Augenblick auf ihrem Kopf, als wäre sie eine Gefangene.
    Allmählich fand sie ihre Fassung zurück, und die anfänglichen Zweifel der beiden Polizisten an ihren Ausführungen schwanden dank der Klarheit ihrer Sätze. Die Fahrt war kurz und endete vor dem Nebeneingang des Polizeipräsidiums, der nachts als einziger Zugang in das riesige Gebäude führte und von einer Wache kontrolliert wurde. Die enorme, mit glänzenden Marmorplatten ausgekleidete Eingangshalle, die sie auf dem Weg zu den Kommissariaten durchquerten, lag in einem gespenstischen Halbschatten. Erst der Flur im dritten Stock war hell erleuchtet. Die beiden Streifenbeamten lieferten sie bei einer Inspektorin ab, die sich mit dem Namen Pina Cardareto vorstellte und

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