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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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schreckliche Gewissheit mit. Die älteren Brüder hatten die Katastrophe überlebt und schlugen sich in Addis durch. Das Haus in Jimma war verkommen und von fremden Menschen bewohnt. Ihnen kaufte er den eigenartigen Tisch ab und organisierte seinen Transport nach Nottinghill.
    London war ein Schock gewesen, und für die Einreise bedurfte es aller Verbindungen, über die Spencer Elliot verfügte. Obwohl ihr Englisch dürftig war, konnte er mit Hilfe der BBC eine erste Aufenthaltsbewilligung durchsetzen: Als Dolmetscherin beim Schnitt seines Dokumentarfilms war die neunzehnjährige Miriam angeblich unersetzbar.
    Nottinghill war ein unattraktives Viertel mit einer kunterbunten Bevölkerungsmischung. Die ersten Tage in der großen fremden Stadt schüchterten das Mädchen völlig ein. Sie traute sich lange nicht allein auf die Straße. Spencer führte sie in Geschäfte, sie kauften Kleidung für Miriam und Lebensmittel, die sie noch nie gesehen hatte. Fish & Chips war die große Entdeckung gewesen. Er stellte sie seinen Freunden vor, deren Gesprächen sie nur mühsam folgen konnte. Sie sprachen über Dinge, von denen sie noch nie gehört hatte,und sobald einer von ihnen in Dialekt verfiel, versagten ihre Englischkenntnisse. Als Spencer zum Sender musste, um sein Material zu schneiden, ließ er Miriam in der Obhut der anderen Bewohner des Hauses in der Colville Mews. Eine rührende Nachbarin hatte sie schließlich zu einem Sprachkurs gedrängt. Und sie bat Miriam, in einem Büro für afrikanische Einwanderer zu helfen. Die Berichte der Leute waren deprimierend, und sie sollte diese Schilderungen für die Asylverfahren in Schriftform bringen, deren Grammatik die anderen Mitarbeiter anfangs noch korrigierten. Sie hatte Heimweh, vor allem aber war die Ungewissheit darüber, wie es ihrer Familie erging, unerträglich. Nicht einen Brief hatte Miriam aus Jimma erhalten. Nach einem Jahr fand Spencer für sie einen College-Platz. In dieser Zeit der Ungewissheit wuchs in ihr ein unbändiger Wissensdurst und der Wille, Hintergründe zu begreifen, zu recherchieren. Verschweigen und Ignorieren waren die schlimmsten Übel, damit wollte sie brechen.
    Spencer arbeitete hart und bat sie immer wieder um Hilfe bei der Durchsicht seines Materials. Anschließend verbrachte er mehrere Wochen fast ausschließlich im Büro. Miriam saß am Abend oft allein in der Wohnung und schrieb Briefe, bis Spencer spätabends mit müdem Gesicht nach Hause kam. Sein Dokumentarfilm wurde Ende Oktober ausgestrahlt und schockierte die Weltöffentlichkeit. Zum ersten Mal wurde das Ausmaß der Hungersnot in Äthiopien bekannt. Doch die parlamentarischen Entscheidungsprozesse jener Staaten, die unermüdlich über die Einhaltung der Menschenrechte und den Export der Demokratie in andere Teile der Welt debattierten, wurden mit vollem Bauch betrieben. Immerhin gründeten Bob Geldof und Midge Ure das Projekt »Band Aid« und trommelten sechsunddreißig internationale Popstars zusammen, um mit dem Verkauf ihres Albums »Do They Know It’s Christmas« Geld für die Hungernden zusammeln. Ein großer Teil der Millionen, die das Album einspielte und mit dem man die Menschen retten wollte, versickerte allerdings in den Abgründen der Korruption des äthiopischen Regimes.
    Das Leben in Europa überhäufte Miriam mit Nachrichten, die sie vorher nicht erreicht hatten. Zeitungen und Fernsehen nahmen sie voll in Anspruch. Im Dezember jenes Jahres drangen im indischen Bhopal im Chemiewerk eines US-Konzerns Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre und forderten tausende Opfer sowie eine halbe Million Schwerverletzte. Sparmaßnahmen bei Sicherheitsvorkehrungen und der Wartung waren die Ursache. Lächerliche Entschädigungszahlen erfolgten erst viele Jahre später, als die Spätfolgen die Zahl der zu Entschädigenden weiter dezimiert hatten. Die Umweltschäden wurden nie behoben und bis dato kein Verantwortlicher verurteilt. 1985 kam es in der Sowjetunion zu einem Machtwechsel, Michail Gorbatschow hieß der neue Generalsekreträr der KP, und Südafrika ließ zum ersten Mal Mischehen zwischen Schwarzen und Weißen zu. In Neuseeland versenkten französische Geheimdienstler die »Rainbow Warrior«, das Schiff, mit dem Greenpeace-Aktivisten gegen die Atomtests der »Grande Nation« auf dem Mururoa-Atoll protestieren wollten. Vor der italienischen Küste kidnappte ein Palästinenser-Terrorkommando das Kreuzfahrtschiff »Achille Lauro«. Zu tödlichen Bombenanschlägen kam es auch auf

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