Keine Frage des Geschmacks
Tag werden. Nicht einmal zum Duschen war er gekommen, nachdem der Hilferuf ihn kurz nach sechs aus dem Schlaf gerissen hatte.
Und um halb zehn, als er den Schauplatz den Kriminaltechnikern und der übernächtigten Pina Cardareto überlassen hatte, war er von Miramare die paar Kilometer nach Hause gefahren, um das Auto gegen die Vespa zu tauschen. An einem heißen Sommerwochenende gab es kaum ein Durchkommen am Lungomare von Barcola. Schon früh am Samstagmorgen trödelten die Badegäste in ihren Autos die Straße entlang und hofften auf einen freien Parkplatz – wenn möglich direkt neben dem Liegestuhl. Nur auf zwei Rädern konnte man dem entnervenden Stop-and-go entkommen und sich vorbeischlängeln.
Mit der Zeitung wedelnd stürmte ihm Walter entgegen, als Laurenti vor der Malabar die rote Vespa aufbockte. Der Wirt lachte schadenfroh und breitete das Blatt auf dem Sattel des Rollers aus.
»Schau dir diese beiden Artikel an, Commissario. Einer besser als der andere.« Er blätterte hastig zum Polizeibericht und las vor.
Von der Pizza gerettet. Die Wildschweine sind unter uns. Noch war die Sonne nicht untergegangen und noch war nichts von den Mächten der Finsternis zu sehen, als es plötzlich im Gebüsch knackte und ein riesiges Tier auf das Paar zustürmte, das soeben an einem Stand ein Stück Pizza erstanden hatte. Hatte etwa eine esoterische Schwingung diese Begegnung ausgelöst? Im Sommer werden hier keltische Feste gefeiert und New-Age-Riten zelebriert. Nein, das Wildschwein wollte Pizza. Nur ein beherzter Sprung auf einen Holztisch rettete die beiden Verliebten, während das gierige Tier nicht von ihnen abließ. Erst als sie die Pizza mit Schweinswürstel opferten, gelang ihnen die Flucht zur nahen Straße, auf der sie der Bestie nur knapp entkamen. Sie wollte mehr.
»Es kommt noch besser.« Walter amüsierte sich köstlich und riss Laurenti aus seinen düsteren Gedanken.
»Mach mir bitte erst einen Kaffee«, bat er, doch der Wirt ließ nicht locker.
»Gleich«, sagte er und blätterte zwei Seiten weiter. »Heute ist ein wahrer Glückstag, Proteo. Unsere Freunde waren mordsmäßig in Form.« Walter zeigte auf den nächsten Artikel, der ebenfalls groß aufgemacht war. »Wie schade, dass dies nicht dein Einsatz war.« Er überließ ihm das Blatt und machte sich endlich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
Orgie im Altersheim. Nachbarn beschweren sich über anschwellenden Lärmpegel. »Seit zwei Wochen geht das so«, seufzte der übernächtigte Giovanni D., 48. »Erst gestern nahm man unsere Beschwerden endlich ernst. Ich bin nun wirklich kein Denunziant.« Der blasse Angestellte trug dunkle Ringe um die Augen, und seine Ehefrau, Silvana F., 46, klagt über anhaltendes Kopfweh. »Sex ist ja an sich nichts Schlimmes«, sagte sie gähnend. »Doch diese spitzen Schreie rauben uns den Schlaf. Wir müssen früh zur Arbeit, diese Rentner sind rücksichtslos. Warum treiben sie es nicht tagsüber oder schließen wenigstens die Fenster? Schon die Vorstellung von dem, was dort abgeht, ist eine Belastung.« Ihr Mann nickte bestätigend. Auch Nachbarn bezeugten, dass seit Beginn der warmen Jahreszeit tatsächlich »seltsame Geräusche« aus dem Altersheim zu vernehmen waren, die sie allerdings anders interpretierten. Ihrer Meinung nach spielten die lebensfrohen Senioren Karten. Von den Bewohnern des betroffenen Hauses selbst wollte sich niemand zu dem Vorfall äußern. Nur eine weißhaarige Dame empörte sich über die Unterstellungen: »Immer sind wir Alten schuld«, sagte sie. Die verzweifelten jungen Leute nebenan fanden ihre Nachtruhe erst dank dem Einsatz der Streifenbeamten.
Walter und Proteo liebten die Provinzpresse wegen ihrer Originalität, die sie überall von den großen Blättern unterschied. Triest galt in Italien als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität. Neben der geringen Kleinkriminalität und den hohen Spareinlagen war offensichtlich auch die Vitalität der Pensionäre ein Kriterium, die ein überdurchschnittlich hohes Alter am nördlichen Ufer der Adria erreichten. Hatten die Bewohner des Altenheims sich etwa von den Eskapaden des kaum jüngeren Premiers anstiften lassen? Das positive Beispiel dieses Mannes wurde einfach maßlos unterschätzt.
»Sie haben Alberto zusammengeschlagen«, beendete Laurenti endlich die ausgelassene Stimmung.
»Was?«, fragte Walter entsetzt.
»Es steht ziemlich schlecht um ihn. Im Moment wird er operiert. Ich hoffe nur, er kommt durch. Drei Kerle dieser
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