Keine Frage des Geschmacks
Laurenti fragte sich, ob der jüngere der beiden Beamten, der sich besonders bemühte, vielleicht Patrizias ominöser Liebhaber war.
Laura hatte ihn völlig verstört angerufen und von ihrem Unfall bei Contovello berichtet, wo sie zuvor in der Osmizza mit dem atemberaubenden Blick auf Stadt und Meer mit ihren Freundinnen die letzten Details des Segeltörns besprochen habe, zu dem sie am nächsten Tag um die Mittagszeit gemeinsam aufbrechen würden.
»Fahr vorsichtig, Schatz«, nuschelte Laurenti und stieg in seinen Wagen. »Du hast zu viel getrunken. Bleib dicht hinter mir, dann kann dir nichts passieren.«
Nachdem er Gemma erklärt hatte, dass er zwar dem Stau auf der Autobahn entkommen wäre, es aber für ein Treffen zu spät sei, hatte Laura ihm mitgeteilt, dass sie wieder nicht zumAbendessen nach Hause kommen würde. Sie hatte weitere Bilder aus einer privaten Sammlung begutachten müssen, danach würde sie von ihren Freundinnen erwartet. Seine Schwiegermutter würde das Essen aber auch an diesem Abend für ihn zubereiten.
Proteo Laurenti war daraufhin direkt nach Santa Croce ins Pettirosso gefahren, wo ihn seine Freunde fröhlich begrüßt hatten. Sie saßen vor dem Lokal an einem langen, tonnenschweren Tisch aus dem grauen Stein des Karsts, an dem schon viele Generationen trinkfester Männer aus dem malerischen Dorf über dem Meer, einen Liter des naturreinen offenen Weißweins nach dem anderen geleert hatten. Der Wein, der entlang der von der Sonne verwöhnten Steilküste angebaut wurde, war für sie ein lebensverlängerndes Elixier, dem sie umso mehr zusprachen, je öfter ihre Ehefrauen sie zur Mäßigung mahnten.
Im Sommer ließen die Freunde keine Gelegenheit verstreichen. Nur Proteo Laurenti hatte in letzter Zeit gefehlt, und sogleich wurde er neugierig nach dem Wahrheitsgehalt der Zeitungsmeldung über diese englische Politikerin befragt, die in Grado den Urlaub voll ausgekostet habe. Laurenti winkte nur ab und machte sich über die panierten Sardellen und frittierten Calamari her, damit der Wein seine Wirkung nicht allzu schnell zeigte.
Als Laura ihren Mann anrief und von der Kollision mit dem Wildschwein berichtete, verabschiedete er sich nur widerwillig von dem ausgelassenen Kreis.
»Du riskierst deinen Führerschein, Commissario!«, rief einer seiner Freunde, und alle lachten. Laurenti aber stellte das Blaulicht aufs Dach und gab Gas.
Urgroßmutter Camilla war schlecht gelaunt gewesen, als Laura und Proteo kurz vor Mitternacht nach Hause kamen. Sie hatten den viel zu laut gestellten Fernseher bereits vernommen,bevor sie die Tür öffneten. Die Alte saß, die Wiege mit dem schlafenden Säugling neben sich, auf dem Sofa und schaute eine Talkshow, in der sorgsam ausgewählte Gäste die Arbeit der Regierung beurteilten und dem Premier letztlich ein gutes Zeugnis ausstellten. Auch er habe ein Recht auf Privatleben, seine Affären hätten auf seine Verantwortung als Staatsmann schließlich keinen Einfluss. Der einzige, der das Land aus der Krise führen könne. Ein Retter. Ein Erlöser.
»Alle lassen mich mit der kleinen Barbara hier allein. Nicht die geringste Ansprache habe ich«, beschwerte sich Lauras Mutter bitter. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich in San Daniele geblieben. Das ist die reinste Sklaverei. Ich putze den ganzen Tag, mache den Haushalt, kümmere mich um das Baby, weil Patrizia jetzt auch am Abend mit diesem Lüstling loszieht. Und für deinen Mann koche ich auch, Laura, weil du angeblich in Arbeit versinkst. Ich habe es ja immer schon gesagt, die Leute, die am Meer leben, haben keine Moral. Und die Männer trinken zu viel.«
»Geh bitte zu Bett, Mamma«, sagte Laura. »Du musst sehr müde sein, nach allem, was du für uns tust. Ich kümmere mich um die kleine Barbara. Und über den Rest reden wir morgen.«
Laurenti hatte die beiden allein gelassen, in der Küche für Laura und sich noch Wein eingeschenkt und die Gläser auf die Terrasse hinausgetragen. Das Baby schlief, und Patrizia würde sicher rasch zurückkehren. Sie war bestimmt nur auf einen Sprung nach Barcola ins La Voce della Luna gegangen, das jetzt wieder eröffnet hatte und wo auch Laurenti beizeiten gerne haltmachte. Eine feine Bar, romantisch am Meer gelegen, mit bester Musik.
»Mütter und Töchter«, sagte er, nachdem die alte Dame sich grußlos zurückgezogen und Laura den Fernseher abgestellt und die Wiege auf die Terrasse geschoben hatte. »Wie sieht es mit deinem Ausflug aus?«
»Wir laufen
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