Keine Gnade
Sami gewarnt, dass ihr Kurzzeitgedächtnis schnell schwinden würde. Und während der letzten Monate hatte sich der Zustand ihrer Mutter zusehends verschlechtert. »Hast du immer noch Schmerzen in der Brust und bist kurzatmig, Ma?«
»Es kommt und geht.«
»Nimmst du auch jeden Tag deine Medizin?«
»Wenn ich dran denke.«
»Deshalb habe ich dir doch die Wochen-Pillenbox besorgt. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir darüber gesprochen haben, dass du sie immer sonntags auffüllst und die blaue Pille morgens und die weiÃe und die rosa Pille zum Abendessen nimmst?«
Josephine wedelte mit ihrem Arm, als ob sie nichts davon hielt. »Ich habe alles auf einen Zettel geschrieben, aber kann mich nicht daran erinnern, wo ich ihn hingelegt habe.«
»Ich werde es dir noch mal aufschreiben und es auf den Kühlschrank legen.«
Plötzlich wurde Josephine kreidebleich und griff sich an die Brust.
Sami sprang auf, wobei sie ihren Stuhl nach hinten umwarf. »Was hast du, Ma?«
»Mir sind die Käsemakkaroni nicht bekommen. Ich hätte wissen müssen, dass ich so fettes Essen nicht vertrage.«
»Aber du hast doch kaum etwas gegessen.«
»Mein Magen ist nicht mehr der alte.«
Sami konnte sehen, dass Josephine Mühe mit dem Atmen hatte und eindeutig litt. Schweià lief von ihrer Stirn. Sami suchte hektisch in ihrer Handtasche nach dem Handy. »Ich rufe einen Notarzt.«
Josephine lehnte sich nach vorn, ihr Oberkörper lag fast auf dem Tisch. »Es ist alles in Ordnung. Das geht vorbei. Es ist nur der Magen.«
Sami achtete nicht auf sie und wählte den Notruf.
Al war auf dem Weg ins Revier, als Sami anrief. Er packte seine Magnetleuchte aufs Dach, stellte die Sirene an, machte kehrt und fuhr zum Saint Michaelâs Hospital.
Nach weniger als zehn Minuten hielt er mit quietschenden Reifen genau vor der Notaufnahme, wo nur Krankenwagen halten dürfen. Er klappte die Sonnenblende mit dem Schild »Polizei im Einsatz« und dem Logo der Polizei von San Diego herunter. Er stürmte durch die Eingangstüren zum Empfang. Nach einer kurzen Unterhaltung verwies die Schwester Al auf den kleinen Warteraum vor der Notaufnahme.
Er konnte Sami sehen, die mit gesenktem Kopf und im Schoà gefalteten Händen in einer Ecke des dunklen Raumes saÃ. Das letzte Mal hatte er sie so verloren aussehend auf der Beerdigung ihres Exmannes Tommy DiSalvo gesehen. Angelina konnte er nirgends erblicken. Er ging langsam auf sie zu, räusperte sich ein paar Mal, um sie nicht zu erschrecken, setzte sich neben sie und legte ihr seinen Arm um die Schultern.
»Wie geht es ihr?«
Sie sah ihn mit dicken rotgeweinten Augen an. »Sie hatte einen Herzanfall. Sie machen gerade ein Angiogramm, um herauszufinden, ob es irgendwo Verstopfungen gibt. Sie haben noch nicht feststellen können, ob ihr Herz geschädigt wurde.«
Al küsste Sami auf die Wange. »Sie ist hart im Nehmen. Sie wird es schaffen.« Er hatte nicht das Gefühl, sie überzeugt zu haben. »Wo ist Angelina?«
»Emily passt auf sie auf.«
»Wo?«
»Im Haus.«
»Soll ich sie herholen?«
»Kein Ort für eine hyperaktive Sechsjährige. AuÃerdem liebt Angelina Emily.« Emily war Samis einzige Kusine. Sami griff nach Als Hand. »Kannst du bei mir bleiben?«
Er starrte auf seine abgewetzten Schuhe und schüttelte den Kopf. »Ich hasse es, Sami, aber ich muss â¦Â«
»Ich verstehe.« Sie küsste ihn auf die Wange. »So lange ist es noch gar nicht her, da war ich auch ein Cop. Hat es mit Davisons Anruf von heute Morgen zu tun?«
»Wir haben im Mission Bay Park die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die Eltern haben sie identifiziert, und ich muss sie jetzt befragen. Freue mich nicht gerade darauf.« Al checkte sein Handy. »Wenn du irgendetwas hörst â und ich meine wirklich egal was â, ruf mich an.«
Sami brauchte dringend einen Kaffee, selbst wenn es das Gebräu aus der Cafeteria des Krankenhauses war. Aber sie traute sich nicht, den Warteraum zu verlassen, da sie befürchtete, den Arzt zu verpassen. Sie versuchte, sich auf einen zwei Monate alten Artikel über Paris Hilton im People -Magazin zu konzentrieren, aber die Worte kamen nicht in ihrem Kopf an.
Sie sah sich im Raum um, sah verschlissene Stühle, einen abgewetzten Teppich, das schiefe Bild eines Surfers, der auf einer
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