Keine Gnade
es mit Genevieve nicht genauso? War sie nicht zum Wohl der Allgemeinheit »eingezogen« worden?
Er hatte darüber nachgedacht, ihre Leiche komplett verschwinden zu lassen. Das wäre die sicherste Option gewesen und hätte die Polizei in ihren Bemühungen maÃgeblich behindert. Keine Leiche, keine Beweise. Zunächst gäbe es nur den Hinweis auf eine vermisste Person. Aber nach einer aus gedehnten Ermittlung würde der Fall den ungelösten Mord Âfällen zugeordnet werden. Indem er ihre Leiche im Mission Bay Park ablegte, hatte Julian sich einem groÃen Risiko Âausgesetzt. Aber er war kein barbarischer Mörder, er war ein Profimediziner. Wie könnte er sich noch ertragen, wenn er Genevieve in kleine Stücke geteilt und ins Meer geworfen hätte? Es hätte an Würde und Respekt gefehlt. Denn schlieà Âlich war sie gewissermaÃen eine Märtyrerin.
Als ihm die Idee, Genevieve Designerkleider anzuziehen, zum ersten Mal gekommen war, verwarf er sie sofort wieder als zu verrückt. Aber da er unter seiner Schuld litt, erschien ihm die Idee â je länger er darüber nachdachte â nicht mehr ganz so abwegig. Er hätte Genevieve auch in einen Leinensack stecken können, und es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie wäre immer noch tot, ihr Oberkörper fast durchtrennt, ihr Herz aufgeschnitten. So sinnlos und unlogisch es auch war, Julian fühlte sich einfach besser, denn auf diese Art und Weise konnte er ihr seinen Respekt erweisen.
Er wünschte, er hätte einen besseren Platz gefunden, um ihre Leiche abzulegen. Sicherlich gab es einen passenderen Ort als einen Park. Für Subjekt Nummer zwei würde er seine Optionen überdenken und sich nach einem geeigneteren Umfeld umsehen.
Julian setzte sich auf die Couch, lehnte seinen Kopf an und versetzte sich in seine Kindheit zurück.
Seine erfolgreichen und wohlhabenden Eltern hatten ihm in seiner Kindheit und während der Teenagerzeit alles geboten, wonach es ihm mit seiner zwanghaften Neugier verlangte. Alles auÃer Liebe. Er hatte immer ein Gefühl der Leere in seinem Leben gehabt, eine Leere, die er nie aus füllen konnte. Niemand in seiner Familie â nicht die Mutter, der Vater oder Geschwister â hatte offen Zuneigung an den Tag gelegt. Wieso hatten seine Eltern es nicht verstanden, dass es in ihrer Verantwortung lag, für mehr als nur Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu sorgen?
Zu seinem Geburtstag und besonderen Anlässen wie Weihnachten überhäuften sie ihn mit teuren Geschenken, verwöhnten ihn nach Strich und Faden, doch alles, was er an Zuneigung erwarten konnte, waren ein flüchtiger Kuss auf die Wange oder ein fester Klaps auf die Schulter. Sie begriffen offenbar nicht, dass er sich liebend gern von all seinen Habseligkeiten getrennt hätte, nur um einmal von seiner Mutter »Ich hab dich lieb« zu hören.
Obwohl er ein Einser-Schüler war, wusste keiner seiner Eltern seine Leistungen in der Schule zu schätzen. Sie überflogen sein Zeugnis immer schnell, unterschrieben es und warfen es auf den Küchentisch. Er war ein vorbildlicher Pfad Âfinder gewesen, hatte fast alle Auszeichnungen gewonnen, die nur möglich waren. In der Grundschule war er Klassenprimus gewesen und hatte die nationale Auszeichnung für das »Wissenschaftsprojekt des Jahres« gewonnen. Doch warÂum konnte er nicht ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich ihren Respekt verdienen? Was müsste er tun, damit seine Eltern seine Leistungen anerkennen würden?
Daraufhin wandte er sich anderen Bereichen seines Lebens zu, in denen er meinte, Zuneigung und Anerkennung finden zu können. Der zwölf Jahre alte Julian war so verletzlich und naiv, dass seine beiden älteren Kusinen MaÂrianne und Rebecca, die gerade erst durch die Pubertät waren, seinen Hunger nach Liebe voll ausnutzten. Sie führten ihn in ein geheimes kleines Spiel ein, das sie »Kitzlig« nann Âten.
Fast jeden Tag nach der Schule, lange bevor ihre Eltern von der Arbeit nach Hause kamen, gingen seine beiden Kusinen mit ihm in den kleinen Schuppen hinter dem Haus. In dem dämmrigen Holzbau, der mit Gartengeräten und Abfalleimern vollgestellt war, sah er zu, wie die Mädchen ihre Schlüpfer herunterzogen. Dann nahm eine nach der anderen Julians Hand, führte sie unter ihren Nazareth-Academy-Rock und gab Anweisungen, wie sie zu
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