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Keine Gnade

Keine Gnade

Titel: Keine Gnade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Annechino
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können.
    Seine Frau setzte mit dem Range Rover aus der Auffahrt zurück, winkte ihm noch einmal zu und machte sich auf den Weg gen Norden nach Los Angeles. Sie würden nicht vor dem späten Sonntagabend zurückkommen. Das gab Julian genügend Zeit, um nach seiner nächsten Testperson zu suchen. Ihm war nicht wohl dabei, dass seine Frau nachts fuhr, aber ein Immobiliendeal über zwei Millionen Dollar hatte ihren Plan, frühmorgens aufzubrechen, zunichtegemacht. Julian verdiente jede Menge Geld, und Nicole hätte es eigentlich nicht nötig zu arbeiten, doch sie liebte es, Immo­bilien zu verkaufen. Und die Provisionen im fünfstelligen Bereich liebte sie sogar noch mehr.
    Er rannte die Treppe hoch, nahm immer zwei Stufen auf einmal, und knöpfte auf dem Weg zum Bad sein Hemd auf. Er kam sich vor wie Superman, der die Straße entlangrennt und sich dabei seine bürgerliche Kleidung vom Leibe reißt. Eine schnelle Dusche und Rasur, und schon wäre er unterwegs. Bevor er in die Dusche trat, stellte er sich vor den langen Spiegel und betrachtete sich. Es hatte eine Zeit gegeben, als sein Körper fast perfekt ausgesehen hatte, wie von einem begabten Skulpteur aus Ton modelliert. Vor seinem Forschungsprojekt zum Vorhofflimmern hatte er eine strenge Diät eingehalten und war fünfmal die Woche ins Fitnessstudio gegangen. Doch jetzt hatte er zu wenig Zeit für ein regelmäßiges Workout. Und obwohl er so gut wie immer aussah, war sein Körper nicht mehr so schmal und muskulös. Wenn er sich seine schwabbelige Körpermitte betrachtete, war er regelrecht angewidert. Doch seine Prioritäten ließen keine Entschuldigungen für sein nicht ganz perfektes Äußeres zu.
    Heute Nacht würde er sich einer neuen Herausforderung stellen. Seine nächste Testperson sollte ein junger Mann sein, jemand, der sich zu ihm hingezogen fühlte. So wäre es am einfachsten. Seinen Charme einzusetzen wäre weniger riskant als der Versuch, einen sich sträubenden Mann zu entführen. Aber wie sollte er es anstellen, sich einen schwulen Mann zu angeln? Da er hetero war, wusste er nicht, welche Signale er aussenden oder wie er in Kontakt treten sollte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie man sich als Schwuler verhielt, ihm war nur klar, dass es Unterschiede im Verhalten und der Körpersprache gab. Julian wusste noch nicht, wie er seine nächste Testperson finden sollte, doch die Vorstellung, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, erfüllte ihn mit Spannung und nervöser Unruhe.
    Er ging unter die Dusche, stellte das Wasser an, schloss seine Augen und streichelte sich sanft. »Was nun?«, flüsterte er, massierte sich allmählich schneller und versuchte, alle überflüssigen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Doch genau in dem Augenblick, als er das Paradies erreichte, blitzte plötzlich ein Erlebnis aus seiner Vergangenheit vor seinem inneren Auge auf, und ein lebhafter Film spielte sich vor ihm ab.

    Julian hatte seine Kusinen Rebecca und Marianne seit Monaten nicht gesehen. Und er wollte es auch nicht anders. Je länger er darüber nachdachte, was sie ihm angetan hatten, desto größer wurde sein Ärger. Sie hatten ihm klargemacht, dass er es bereuen würde, wenn er ihr »Kitzelspiel« nicht mehr mitmachen würde. Aber er hatte ihre Warnung ig­noriert und alles nur Erdenkliche getan, um ihnen aus dem Weg zu gehen – er hatte sogar Entschuldigungen gefunden, um nicht an Familienfeiern teilnehmen zu müssen. Als n­aiver Teenager versuchte er immer noch herauszufinden, wie die Welt funktionierte, und so brannten ihm zwei Fragen unter den Nägeln. Erstens: Wie konnten seine Kusinen – sein eigen Fleisch und Blut – so etwas Unsägliches veranstalten? Und zweitens: Waren alle Frauen so böse?
    Eines Tages war Julian nach der Schule nach Hause ge kommen und war erstaunt, das Wohnzimmer voller Familien ­mitglieder vorzufinden – Rebecca und Marianne inbegriffen. Bei ihrem bloßen Anblick fing sein Kopf an zu pochen. Als er noch im Flur stand, bemerkte er, dass alle im Zimmer zu ihm hinstarrten. Sie gafften ihn an, als ob er in der Kirche Geld gestohlen hätte. Die Augen seiner Mutter waren rot und verquollen. Julian befürchtete schon, ein Familienmitglied sei gestorben.
    Â»Was ist passiert?«, fragte Julian.
    Sein Vater stand auf und ging auf ihn zu. »Ich bin angewidert von

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