Keine Gnade
grundsätzlich jeden Sonntag zur Kirche ging. Und was sie daran am meisten genoss, war die Gemeinschaft mit den anderen Kirchgängern. Sie hatte das Gefühl, zu etwas Besonderem zu gehören. Etwas Heiligem. Sie war davon ausgegangen, dass die Freundschaften, die sie in der Kirchengemeinschaft gefunden hatte, ein Leben lang halten würden. Und sie hatte dummerweise geglaubt, dass ihre Mitchristen mit ihr durch dick und dünn gehen würden. Doch als sie ihre schreckliche Scheidung durchmachte, eine Zeit in ihrem Leben, in der sie mehr denn je Unterstützung und Verständnis gebraucht hätte, hatte sie die Scheinheiligkeit der Menschen aus erster Hand erfahren, gerade der Menschen, die von sich behaupteten, gottesfürchtig zu sein.
Besonders Margaret, eine Frau, mit der Sami viele Feiertage verbracht hatte â vor allem Thanksgiving und Weihnachten â, wandelte sich von einer lieben Freundin und Schwester in Christi zu einer unerbittlichen Richterin. Weil Sami durch eine Scheidung ging, ein Verfahren, das die katholische Kirche und die Bibel verdammten, wandte MarÂgaret sich von Sami ab und gab die Freundschaft auf. Sami hatte inzwischen auch zu Margarets Familie gehört, fast als wäre sie adoptiert. Doch als Margaret sie regelrecht verstieÃ, verlor Sami nicht nur Margarets Freundschaft, sondern auch ihre Beziehung zu Margarets Familie. Sami trug so schwer an diesem Verlust, dass sie geschworen hatte, nie wieder zur Kirche zu gehen. Doch die Bitte ihrer Mutter zwang Sami nun, ihre Entscheidung zu überdenken.
Sami war immer noch erschüttert von ihrem Gespräch mit Al vorhin. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. So verzweifelt. So aufgewühlt. Er hatte ihr erzählt, dass Aletas EEG unnormal war, und wenn die Linien ganz flach würden, müsste er entscheiden, ob die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet werden sollten oder nicht. Sami wünschte sich so sehr, an Als Seite zu sein, doch sie respektierte seine Wünsche. Sie hatte darüber nachgedacht, ihm von ihrem Besuch bei Simon zu erzählen, doch zu welchem Zweck? Irgendwann würde sie es tun.
Sie schloss ihre Augen und war überzeugt, dass eine lange Nacht vor ihr lag.
»Bitte, bitte«, flehte Rotschopf. »Bitte tun Sie meinem Verlobten nichts.« Sie war immer noch an den Stuhl gebunden, der neben dem Bett stand, auf dem Biermann lag, doch Julian fiel auf, dass sie nicht mehr versuchte, sich zu befreien. Sogar ihrer Stimme fehlte die Kraft. Hatte er ihren Willen gebrochen?
Er stand neben Biermann, hörte nicht auf ihr Flehen, und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er überprüfte das chirurgische Besteck auf dem Rollschränkchen und entwirrte die zehn Kabel, die am Herzmonitor hingen.
»Genug ist genug!«, rief Biermann. »Jetzt lass uns gehen!«
Julian nahm einen neuen Rasierer zur Hand und fing an, Biermanns Brust zu rasieren.
Biermann wand sich so heftig wie ein Fisch am AngelÂhaken, doch er konnte sich nicht befreien. »Was machst du da, verdammt noch mal?«
Julian drückte Biermanns Schulter nach unten, versuchte ihn ruhigzuhalten. »Das wird alles viel einfacher für dich, wenn du dich entspannst.«
Der Ausdruck in Biermanns Gesicht wechselte von Verärgerung zu Entsetzen. »Es tut mir leid, Mann, wirklich. Was ich gesagt habe, war nicht so gemeint. Ich war ein bisschen besoffen und dachte, du willst meine Verlobte anbaggern.«
»Hab ich ja auch.«
»Du verdammter ScheiÃkerl!«
»Du hast es noch nicht begriffen, oder? Das hier ist kein Spiel, und ich versuche nicht, mich zu rächen.« Julians Stimme wurde lauter. »Nun halt dein Maul, bevor ich dir wirklich Grund zum Schreien gebe.«
Biermann gab schlieÃlich auf, schniefte und schluchzte unter Tränen.
»Mister«, rief Rotschopf verzweifelt, »ich mache alles, was Sie wollen. Sie können mich haben, wie auch immer Sie wollen. Doch lassen Sie uns bitte gehen.«
Nachdem Biermanns Brust rasiert war, legte Julian den Rasierer beiseite, ging zu Rotschopf und kniete sich neben sie. Sein Mund war nur wenige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. »Sag mal«, flüsterte er, »wenn du sagst, ich kann dich haben, wie auch immer ich will, was heiÃt das ganz genau?«
»Muss ich es buchstabieren?«
»Musst du, tatsächlich.«
»Wenn Sie uns gehen lassen ⦠werde ich, mmh, Sex mit Ihnen haben.«
»Und du
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