Keine Gnade
Bier aus dem Kühlschrank nehmen wollte, hörte er Reifen quietschen. Er schob die Lamellen der hölzernen Jalousie auseinander und schaute aus dem Fenster. Der silberne Range Rover seiner Frau stand in der Einfahrt.
Damit er keinen Anlass für einen Streit lieferte, stürmte Julian aus der Tür und umarmte Nicole zur BegrüÃung, in der Hoffnung, seine Geste würde sie von vornherein milde stimmen. »Herzlich willkommen daheim, Liebling. Es ist so schön, dich zu sehen.«
»Kannst du bitte mein Gepäck nehmen?« Ihre Stimme war kalt wie Eis. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer nach.
»Wie war der Verkehr?«, fragte Julian, um die Unterhaltung so harmlos wie möglich zu halten.
»Aus L. A. herauszukommen war fast unmöglich, aber als ich erst mal auf dem Freeway nach San Diego war, bin ich auf die linke Spur und habe nicht ein einziges Mal auf die Bremse treten müssen.«
»Sind die Mädchen okay?«
»Es geht ihnen gut. Sie sind gern bei meinen Eltern.«
»Möchtest du etwas Kaltes zu trinken oder einen kleinen Snack?«
»Nein, ich brauche nichts.« Sie lieà sich auf das Ledersofa fallen. »Aber ich hätte gern ein paar Advils. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Aber sicher.«
Nicole schluckte die Pillen und trank das Glas Wasser aus.
»Meine Eltern werden nach San Diego zurückziehen«, sagte Nicole und verblüffte Julian mit ihrer abrupten Ankündigung. »Sie haben sogar schon einen Immobilienmakler beauftragt, sich nach einem Haus in La Jolla umzusehen.«
Er hatte das Gefühl, als würde eine Bombe in seinem Kopf explodieren. Ihre Erklärung traf ihn völlig unvorbereitet. Als sie gesagt hatte, dass sie miteinander reden müssten, war er überzeugt gewesen, dass sie die Sache mit Big Bear meinte. Nicht im Traum hätte er mit so einer folgenschweren Nachricht gerechnet. »Aber ich habe immer gedacht, dass deine Eltern liebend gern in Santa Clarita wohnen.«
»Tun sie auch. Aber sie lieben Isabel, Lorena und mich noch mehr. Obwohl ich mit den Kindern einige Male im Monat bei ihnen vorbeikomme, reicht ihnen das nicht.«
AuÃer einem SWAT -Team, das mit einem Rammbock durch die Tür kommen und ihn wegen Mordes verhaften würde, konnte sich Julian nichts Schlimmeres vorstellen als diese Ankündigung von Nicole. »Wann ist es so weit?«
»Sie haben schon ein Angebot für ihr Haus akzeptiert, nun müssen sie nur noch hier ein Zuhause finden.«
Mit dieser Feststellung â ein Pfahl mitten in sein Herz â sah Julian all seine Träume und Erwartungen dahinschwinden. Wenn das eintrat und die Familie ohne Unterlass da wäre, bevor er ein kleines Zeitfenster für seine Forschung finden könnte, wären seine Flügel für immer gestutzt.
»Du siehst nicht gerade begeistert aus«, sagte Nicole.
»Das verstehst du falsch. Ich freue mich für sie. Ich bin nur einfach überrascht.«
»Du musst es mal so sehen. Uns stehen jederzeit die besten Babysitter der Welt zur Verfügung. Denk doch mal an die Möglichkeiten, die sich uns eröffnen«, sagte Nicole und lächelte das erste Mal seit ihrer Rückkehr.
Oh, und wie sehr Julian über die Möglichkeiten nach dachte. Und keine hatte mit seiner Familie oder Nicoles Eltern zu tun. Er hatte einen entscheidenden Zeitpunkt in seinem Leben erreicht. Mit jedem Tag, der verging, kam er der Forschungsförderung, der Erfüllung seines Traumes, einen Schritt näher. Alles andere in seinem Leben war zweitrangig geworden â sogar seine Töchter. Es war eine bittere Erkenntnis, mit der er monatelang gerungen hatte. Aber nun konnte er sich nicht länger belügen. Die Förderung bedeutete ihm alles. Anerkennung bedeutete ihm alles. Und eines war ganz sicher: Keine Macht der Welt konnte ihn aufhalten.
Die Detectives Sami Rizzo und Richard Osbourn holten sich bei Starbucks in Pacific Beach einen Kaffee und fuhren zum Crown Point Park, um sicherzugehen, dass sie sich in Ruhe unterhalten konnten. Dort wanderten sie die Strand promenade entlang. Wie für diese Jahreszeit typisch hingen dicke dunkle Wolken über der Küste. Es war ein PhänoÂmen, das die Bewohner von San Diego May Grey oder June Gloom nennen. Doch trotz des unfreundlich wirkenden Himmels war der Wind warm, der über die Bucht hereinkam.
Im Gegensatz zu den Wochenenden, wenn der Park vor Aktivitäten nur so
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