Keine große Affäre
herumwirbelnden
Figuren des Mobiles, das sie an den Kronleuchter gehängt hatte, und sie
beobachtete ihn dabei und versuchte, seine Gedanken zu lesen.
Aus irgendeinem Grund mußte sie an ein
Essay denken, das sie einmal für den Philosophieteil ihres Studiums hatte
schreiben müssen. Es war eines der wenigen gewesen, für das sie soviel
Interesse aufgebracht hatte, daß sie sich vor dem Tutorial die Nacht um die
Ohren geschlagen und sich bemüht hatte, die themenrelevanten Artikel in den
schweren Bänden des Philosohical Review zu verstehen. Die
Aufgabenstellung hatte gelautet: »Kann der Mensch ohne Sprache denken?« Um vier
Uhr morgens, als die klugen Worte Ayers und Russells vor ihren Augen
verschwammen, ihr Kopf nach vorne kippte und sie sich nur noch mit Unmengen
Kaffee und Coca Cola wachhielt, hatte sie sich gefragt, ob die passendere Frage
nicht gewesen wäre: »Kann der Mensch ohne Schlaf denken?« Und jetzt, als sie
ihren acht Wochen alten Sohn sah, der so offensichtlich von den glitzernden
Lichtregenbogen an der Decke fasziniert war, wurde ihr klar, wieso sie mit
Philosophie nie viel am Hut gehabt hatte. Die trockenen, logischen Argumente,
über die sich Akademiker in ihren unverständlichen Aufsätzen so aufregten,
waren einfach völlig irrelevant. Man mußte nur ein Baby anschauen, seine unzähligen
Gesichtsausdrücke beobachten, um zu wissen, daß der Mensch eindeutig ohne
Sprache denken konnte. Trotzdem hatte sie den Verdacht, daß eine Antwort, die
nur aus dem Wörtchen »Ja« bestanden hätte, bei ihrem Tutor noch schlechter
angekommen wäre als die planlos hingekritzelten Notizen, die sie abgegeben
hatte.
»Glaubst du, Daddy wird sich seinen
Enkelsohn je ansehen?« Ginger stand auf, ging in die Küche, nahm ein
Geschirrtuch vom Wäscheständer und fing an, die zweite Runde Abwasch
abzutrocknen, die Pic jetzt in Angriff nahm.
»Es geht ihm nicht besonders gut. Er
sieht wirklich schrecklich geschwächt aus«, sagte Pic diplomatisch wie immer.
»Ach, komm schon, ich weiß, er hat
neulich im Parlament mitgestimmt. Ich hab im Fernsehen gesehen, wie sie ihn
reingerollt haben. Wenn er sich für die Regierung aufraffen kann...« Ginger
verstummte.
Sie wußte nicht, warum es ihr so zu
schaffen machte, daß ihr Vater ihrem Baby noch nicht die Ehre erwiesen hatte.
Solange sie denken konnte, war sie an seine Mißbilligung gewöhnt, und das hatte
sie oft wütend gemacht, aber niemals traurig. Jetzt dagegen mußte sie gegen die
Tränen ankämpfen, die ihr in die Augen geschossen waren.
»Hast du ihn denn eingeladen?« fragte
Pic und wischte sich das Haar aus dem Gesicht, wobei sie einen Halbmond aus
Seifenschaum auf ihrer Stirn hinterließ.
Ȁh, nein, aber das ist doch wohl
nicht nötig, oder?«
»Hast du schon daran gedacht, Guy mal
mit nach Hause zu nehmen?« Ihre Schwester ließ nicht locker.
»Wie denn? Ich habe kein Auto, und ich
könnte mich nicht mit dem Baby und dem ganzen Kram bis Waterloo Station
durchschlagen und dann in den Zug setzen. Das geht einfach nicht... Außerdem
bin ich nicht eingeladen...«
Sie hatte die Worte kaum
ausgesprochen, als ihr schon bewußt wurde, worauf Pic hinausgewollt hatte.
»Okay, okay.« Sie hob die Hände und
gab sich geschlagen. »Vielleicht sollte ich mich wie ein erwachsener Mensch
benehmen und ihn einladen... Natürlich nicht, weil ich ihn hier haben will«,
fügte sie hinzu, »sondern, weil ich meinem Sohn die Gelegenheit geben muß, sich
über seinen Großvater sein eigenes Urteil zu bilden...«
»Wie großmütig du doch bist«, sagte
Pic ernst und versuchte, einem Schlag auf den Hintern auszuweichen, den Ginger
ihr mit einer gerade abgetrockneten Bratpfanne verpaßte.
Als sie die leichte Steigung zum
Bahnhof hinaufliefen, entdeckte Neil Alison, die ebenfalls auf dem Weg dorthin
war. Sie war allein und ging schnell. Sie trug eine leichte Tweedjacke und enge
Jeans. Ihr glänzendes, kastanienbraunes Haar schwang bei jedem Schritt mit. Sie
hatte roten Lippenstift aufgelegt.
Lia sah sie im gleichen Moment und
rief nach ihr.
Er beobachtete, wie sie stehenblieb
und sich umsah. Offensichtlich fragte sie sich, ob sie ihren Namen gehört oder
sich das nur eingebildet hatte. Sie war eindeutig verärgert darüber,
aufgehalten zu werden. Er erinnerte sich, daß sie arrogant wirkte, wenn sie
nervös war. Viele Leute in der Schule hatten deshalb einen Bogen um sie
gemacht, aber für ihre Karriere war es sicher von Vorteil gewesen. Nach dem,
was er von Lia
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