Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
hinunter und trat dann auf die verregnete Oxford Street hinaus. In ihren Mantel schlüpfend ging sie los, um ihren Bus zu erwischen. Nach wenigen Schritten blieb sie jedoch noch einmal stehen und drehte sich um. Voller Schuldgefühle blickte sie zum vierten Stock des Kaufhauses hinauf, wo die in Brautkleider gehüllten Schaufensterpuppen standen. Sie fühlte sich mies, dass sie Claire so einfach stehen gelassen hatte. Der Regen lief ihr übers Gesicht, und sie senkte den Kopf, damit die Leute nicht die verräterischen Tränen sahen, die ihr in die Augen getreten waren. Mit den weiterhin hartnäckig aufsteigenden Tränen ringend, reihte sie sich in die Schlange an der Bushaltestelle ein. Wieso war sie nur auf einmal so empfindlich? Kopfschüttelnd stieg sie in ihren Bus.
Und jetzt hörte ihr Handy nicht mehr auf zu klingeln. Sie warf einen Blick aufs Display, sah, dass es schon wieder Jack war, und schaltete es aus. Es wurde definitiv Zeit, dass sie einen Vertrag mit einem Provider abschloss – und sich bei der Gelegenheit gleich eine neue Handynummer geben ließ. Sie ließ sich auf einen Sitz fallen und blickte untröstlich aus dem Fenster. Sie hasste sich dafür, dass sie so empfindlich, so verletzlich war. Sie kramte ihren iPod heraus und verschanzte sich hinter der Musik der Doves. Dann holte sie Stift und Tagebuch hervor und begann zu schreiben.
Bus 139, Sonntag, 23. Januar, etwa 16:00 Uhr
Sitze im Bus und habe gerade Claire einfach stehen gelassen, dort im Kaufhaus. Fühle mich schrecklich. Hab ihr vorgeschwindelt, ich müsste ins Büro, und bin einfach abgehauen. Weiß selbst nicht, warum. Weiß nicht, was im Moment mit mir los ist. Ich weiß, ich höre mich an wie Elizabeth Wurtzel, wenn sie einen besonders schlechten Tag hat, aber mir kommt es wirklich so vor, als würde eine dunkle Wolke über mir hängen und mich auf Schritt und Tritt begleiten. Weiß nicht, warum ich in letzter Zeit so nah am Wasser gebaut habe. Eine Kleinigkeit genügt, und ich fange an zu heulen. Und ich kriege Jack einfach nicht aus meinem Kopf, erbärmlich, nicht? Was ist das bloß mit ihm, dass ich auf einmal wieder an all das denken muss was war, an die schönen Zeiten, die wir hatten? Und wenn ich nun nie wieder einen wie ihn finde? Einen wahren Seelenpartner?
Ich hab’s kaum ausgehalten, ihn sagen zu hören, er liebt mich noch genauso wie früher. Mein Magen fühlte sich an, als würde er sich in Säure auflösen. Habe seither nichts Festes runtergekriegt. Das Einzige, was ich in den letzten sechsunddreißig Stunden gegessen habe, war ein halber Becher Ben & Jerry’s und das auch nur, weil Claire mich dazu gezwungen hat. Liegt mir jetzt noch wie ein Eisklumpen im Magen.
Ich muss dir ein Geständnis machen, liebes Tagebuch: Habe mich gestern fürchterlich gehen lassen. Bin in den Speicher gestiegen und habe all die Erinnerungsstücke, die ich vor Jahren in einem Anfall wilder Entschlossenheit in die fernsten Winkel verbannt habe, wieder hervorgeholt: all die Kassetten mit »unserer« Musik. Weiß der Himmel, warum ich das Zeug nicht längst weggeworfen habe. Aber ich konnte noch nie was wegwerfen.
Und da saß ich dann im Schneidersitz auf dem staubigen, muffigen Dachboden, inmitten alter Klamotten, Ramsch und Mottenkugeln und hörte mir heulend all »unsere« alten Songs an. Es war wie eine Zeitreise – zurück in die Vergangenheit. Eine bittersüße, erschütternde Reise. Meinen absoluten Tiefpunkt erreichte ich, als ich das Dylan-Album auflegte. Die Kassette, die Jack immer im Auto hatte, weil er nur diese eine besaß. Immer wenn wir ans Meer fuhren, nach Brighton oder Cornwall, hat er das alte, leiernde Ding rausgekramt, eingelegt und auf volle, blecherne Lautstärke aufgedreht. Und wir haben nach Herzenslust mitgesungen – weil uns im Auto ja niemand hören konnte. Die Sonne brannte uns durchs Sonnendach auf Kopf und Schultern, wir brausten auf der Schnellstraße dahin, spielten alberne Fahrtspiele, aßen staubige alte Schokoriegel und redeten über alles, was uns bewegte, wie zwei Menschen, die füreinander geschaffen sind. Als ich mir gestern die rauschfreie CD-Version anhörte, kam alles wieder hoch, mit einem Schlag. Auf einmal saß ich wieder im Auto mit ihm, verspürte wieder das altvertraute Gefühl von Sicherheit, dass das mit uns ewig halten würde, dass nichts uns je trennen könnte, nichts uns entzweien könnte. Jedenfalls nicht bis zu dem Moment, an dem sein alter, verrosteter VW-Käfer zusammenbrach,
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