Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
was auf jeder längeren Fahrt unweigerlich geschah. Dann stritten wir uns, bis der Abschleppdienst kam und uns wieder flottmachte. Doch so schnell wir auch stritten, so schnell versöhnten wir uns wieder, und kaum fuhren wir weiter, waren wir wieder ein Herz und eine Seele, ja konnten kaum die Augen vom anderen lassen.
Ja, liebes Tagebuch, ich habe mir gestern so einen Moment der Schwäche erlaubt, ich konnte nicht anders. Sein Gesicht stand mir derart klar vor Augen. Komisch, wie lebhaft Musik Erinnerungen wachrufen kann, fast wie eine Kapsel, eine Zeitkapsel, die man Jahre später öffnet und aus der Erinnerungen hervorspringen, frisch und unverbraucht – und dir das Herz aufreißen. Nun, jedenfalls, nachdem ich mir das ein paar Stunden lang angetan hatte, nachdem ich all die liebevoll von ihm aufgenommenen CDs – betitelt »Amelies Mix« – angehört hatte, fühlte ich mich, als hätte ich eine schwere Erkältung: Triefnase, geschwollene, rote Augen, verheultes rotes Gesicht. Ich hasste mich für meine Schwäche. Und genau in diesem Moment klingelte es an meiner Haustür. Natürlich dachte ich sofort, das könne nur Jack sein und mir hüpfte das Herz in den Hals. Gleich darauf betete ich, er möge es nicht sein. Ich rannte rasch ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und mich hastig ein bisschen zurechtzumachen, bevor ich zur Türe ging. Erst als ich durch die Scheibe Claires liebes Gesicht erkannte, hörte mein Herz auf wie wild zu klopfen. Die gute Claire, da war sie, um mich aus meinem Elend und Selbstmitleid zu erlösen.
Gott segne sie, ich bin froh, dass sie gekommen ist; es ist gut, wieder draußen zu sein, wieder unter den Lebenden zu weilen. Aber obwohl es mir jetzt ein bisschen besser geht, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Begegnung mit Jack vielleicht gewollt war. Bedeutet das, dass ich ihm verzeihen soll? Dass das Schicksal mir damit zu verstehen geben will, dass es so etwas wie »den Einen« wirklich gibt und dass Jack dieser Eine ist? Vielleicht war ich ja zu hart zu ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, je wieder einen Menschen zu treffen, der mich so gut versteht wie er. Soll ich ihm noch eine Chance geben? Ich wünschte, ich wüsste es... ich wünschte, ich wäre nie zu dieser blöden Veranstaltung gegangen. Ich wünschte bei Gott, wir hätten diese blöde Kampagne nie aufgehalst bekommen.
In diesem Moment wurde Amelie peinlich bewusst, dass der alte Mann, der neben ihr saß, gespannt jedes Wort mitlas. Sie klappte ihr Tagebuch abrupt zu und drehte die Lautstärke an ihrem iPod auf. Dann lehnte sie den Kopf ans Fenster und starrte den Rest der Fahrt trübe auf die vorbeiziehenden Wolken hinaus und versuchte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen.
10. KAPITEL
Delikatessen
»Was kann man da schon sagen? Nichts außer ›der Mann ist ein Genie‹«, teilte Charlie Amelie drei Tage später mit, als sie das Electric Cinema in Notting Hill verließen. Amelie hatte sich endlich entschlossen, aus dem Jack-Bombardement aus alten, unerwünschten Gefühlen, Anrufen und E-Mails auszubrechen und Charlies Anfrage nach einem Treffen positiv zu bescheiden. Einem kurzen Ausflug ins E-Mail-Flirten war dieser Kinobesuch gefolgt, und sie hatten sich Delicatessen angeschaut.
»Ja, ich finde auch, es war ein toller Film«, stimmte Amelie lächelnd zu. Genießerisch blickte sie in den klaren, dunkelblauen Himmel hinauf. Wie schön, ihre Depression endlich abgeschüttelt zu haben, wie schön, wieder Spaß am Leben zu haben. »Irgendwie unheimlich«, fügte sie hinzu. »Ich bin froh, dass ich ihn endlich gesehen habe. Danke, dass du mich ausgeführt hast.«
Es war, trotz Januar, ein bemerkenswert milder Abend, und sowohl Amelie als auch Charlie trugen ihre Winterjacken über dem Arm, während sie durchs abendliche Notting Hill schlenderten.
»Wie wär’s, hättest du Lust, was zu essen?«, fragte Charlie. »Ich kenne da ein tolles kleines Bistro, nicht weit von hier. Das wäre an einem so schönen Abend wie diesem ideal. Es ist nur so... äh...« Er schaute Amelie mit einem Mal zutiefst bekümmert an. »Amelie, ich würde dich liebend gerne einladen, ehrlich, aber ich bin im Moment so was von pleite. Es ist Ewigkeiten her, seit ich ein einigermaßen anständiges Engagement hatte, ich will gar nicht dran denken. Würde es dir was ausmachen, wenn jeder für sich zahlt?«
»Mensch, ich dachte schon, jetzt kommt was Schlimmes, so wie du ausgesehen hast«, sagte Amelie kichernd. »Nein, das
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