Keine halben Küsse mehr!: Roman (German Edition)
verlegen antwortete er: »Ich bin bei ICM.«
Charlie rang sich ein Lächeln ab, sagte, das sei toll. Ich versuchte vergebens, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Es war offensichtlich, dass Ollie und Charlie nun den ganzen Abend lang ihre Karrieren vergleichen würden. Ich gab ihnen noch eine Chance, über etwas anderes als die Schauspielerei zu reden, hatte aber auch diesmal kein Glück. Nachdem ich mir eine Stunde lang angehört hatte, wie sie ihre Erfolgs-/Misserfolgsrate verglichen, begannen meine Gedanken zur bevorstehenden Fast-Love-Präsentation abzuschweifen, und ich begann ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich hier saß und nicht an der Kampagne arbeitete. Als ich schließlich den unsterblichen Satz »ich arbeite an meiner Technik« vernahm, wusste ich, dass ich es hier nicht länger aushielt. Komischerweise hatte ich das Gefühl, als fehlte mir meine Arbeit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Wir waren nur wenige Minuten vom Soho Square entfernt. Wenn ich jetzt gleich losginge, könnte ich im Büro sein, bevor der Nachtwächter um 22:30 Uhr das Gebäude verließ.
Und da bin ich nun. Sitze allein an meinem Schreibtisch, in einem leeren Bürogebäude und schreibe wie eine einsame alte Jungfer in mein Tagebuch. Meine einzige Gesellschaft sind ein Glas Rotwein und eine Zigarette. Aber ich will nicht ungerecht sein – ich bin mir sicher, dass meine Zeit auf diese Weise besser genützt ist. Ich meine, die Fast-Love-Kampagne braucht mich jetzt mehr als Charlie. Und um ehrlich zu sein, verliere ich allmählich die Geduld mit ihm. Die meiste Zeit über ist er entweder bekokst oder auf dem besten Wege dazu. Ich habe mittlerweile eine ziemlich feine Antenne für die Schwankungen in seiner Persönlichkeit entwickelt; fast als würde man einen Schalter umlegen.
Abgesehen davon gibt es dennoch vieles, was ich an ihm mag – sehr sogar. Und er hat mich wirklich von meinem Jack-Kummer abgelenkt, wofür er allein schon einen Preis verdient. Ich bin nach wie vor gern mit ihm zusammen, habe Spaß mit ihm, auch wenn er es manchmal einfach zu weit treibt. Er kommt mir vor wie ein allzu lebhaftes Kind, das seine Mutter zu dem Ausspruch veranlasst, »das wird noch in Tränen enden«. Wahrscheinlich macht ihn gerade das so liebenswert, andererseits kann einem diese Seite auch ganz schön auf die Nerven gehen. Das Problem ist das Kokain, glaube ich – es ist manchmal wirklich schwer zu beurteilen, was der wirkliche Charlie ist und was nicht.
Nachdem ich all das noch einmal durchgelesen habe, habe ich das Gefühl, vielleicht ein bisschen zu hart über Charlie geurteilt zu haben. Dann hat er halt ein paar Ecken und Kanten, aber, mein Gott, wer hat die nicht? Er mag vielleicht nicht »der Eine« sein, aber wir kennen uns schließlich noch nicht lange und warum sollten wir nicht ein wenig Spaß miteinander haben? Wer bestimmt eigentlich, wie lange man mit jemandem zusammen bleiben soll, von dem man weiß, dass es nicht der Richtige ist? Selbst wenn man weiß, dass er Eigenschaften hat, die man an ihm mag (und andere, die man nicht ausstehen kann), wie lange soll man es versuchen? Ist es besser, allein zu bleiben und auf den Richtigen zu warten oder sich die Zeit mit einem anderen zu vertreiben, weil man Spaß mit ihm hat und noch jung ist? Außerdem frage ich mich, ob nicht alle Beziehungen letztendlich dazu dienen, sich die Zeit zu vertreiben, bis der Richtige auftaucht?
Ich will ja glauben, dass das mit ihm zu irgendwas führen könnte, dass meine Speed-Dating-Erfahrung einen Sinn gehabt hat. Bei Sally hat es schließlich Wunder gewirkt – ich muss sie morgen unbedingt fragen, wie’s ihr diesbezüglich geht. Bin immer noch entschlossen, das Geheimnis des Speed-Datings zu knacken – vielleicht finde ich ja was beim Googeln.
Büro, Donnerstag, 10. Februar, 9:03 Uhr
Bin am Ende nicht weit gekommen, beim Googeln. Hatte kaum das Wort »speed« eingetippt, als plötzlich Josh wie aus dem Nichts in meiner Tür auftauchte und mir einen Riesenschrecken einjagte.
»Was machst du denn noch hier?«, fragte er mich. Er hatte seine Wollmütze an und schlüpfte gerade in seine Jacke.
»Ach, hallo«, sagte ich, noch immer ein wenig atemlos von dem Schrecken, den ich gekriegt hatte. Ich hatte geglaubt, mutterseelenallein in dem Gebäude zu sein. »Bin gerade erst reingekommen. Ich war in der Nähe und dachte mir, könntest ja kurz reinschauen und sehen, ob du in der Fast-Love-Sache nicht noch ein bisschen
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