Keine Panik Prinzessin
bemerkte, dass sie dabei kurz zu Boris rüberschaute, und – was noch entscheidender ist – Boris bemerkte es auch. Anscheinend haben Tinas Bemühungen, ihm etwas Takt beizubringen, gefruchtet, er sagte nämlich: »Tja, ich glaub, ich geh dann mal ein bisschen Geige üben«, und verzog sich ins Lehrmittelkabuff.
»Okay«, sagte ich. »Er ist weg. Was ist los?«
Lilly holte zitternd Luft, sah sich im Klassenzimmer um – worauf alle Anwesenden sofort den Kopf senkten und so taten, als wären sie hoch konzentriert mit ihren jeweiligen Projekten beschäftigt, was sie sonst nie sind, außer wenn Mrs Hill ausnahmsweise mal im Zimmer ist, was sie in diesem Moment aber definitiv nicht war – und flüsterte: »JP hat gerade mit mir Schluss gemacht.«
Ich sah sie komplett und vollkommen entgeistert an. » Was ?«
»Du hast mich schon verstanden.« Lilly wischte sich mit der Rückseite ihrer Handgelenke über die Augen, sodass sie beide Seiten ihres Gesichts mit einem langen schwarzen Streifen Wimperntusche verschmierte. »Er hat mir die Stornokarte gegeben.«
Ich zog mir gerade noch rechtzeitig einen Stuhl heran, um auf seiner Sitzfläche statt auf dem Boden zusammenzubrechen.
»Das ist ein Witz, oder?«, sagte ich. Weil mir dazu ganz ehrlich wirklich nichts anderes einfiel.
Aber an den Tränen, die weiter aus ihren Augen quollen, war die schmerzliche Wahrheit deutlich zu erkennen. Es war kein Witz.
»Aber wieso ?«, fragte ich. » Wann? «
»Gerade eben«, sagte Lilly. »Draußen bei Joe.« Joe ist der Steinlöwe, der auf dem obersten Treppenabsatz am Eingang unserer Schule steht. »Er hat gesagt, es würde ihm total leidtun, aber er würde nicht dasselbe für mich empfinden wie ich für ihn. Er hat gesagt, dass ihm viel an meiner Freundschaft liegt, aber dass er mich nie gel … geliebt hat!«
Ich starrte sie wie hypnotisiert an. Das war viel, viel schlimmer als das, was Michael mir angetan hat. Ich meine, Michael hat mit Judith Gershner geschlafen und mich angelogen und alles.
Aber er hat mir nie gesagt, dass er mich nicht liebt.
»Oh, Lilly«, flüsterte ich. Ich vergaß, dass ich Nihilistin war. Ich konnte nur noch daran denken, wie sehr Lilly litt. »Oh, Lilly. Das tut mir so leid.«
»Mir auch.« Lilly wischte sich wieder über die Augen. »Mir tut vor allem leid, dass ich so beschränkt war und mir nicht selbst eingestanden hab, was ich längst wusste .«
Ich sah sie erstaunt an. »Wie meinst du das?«
»Na ja, als ich ihm das erste Mal gesagt hab, dass ich ihn liebe, hat er bloß ›Danke‹ gesagt. Das war ja wohl ein deutliches Zeichen dafür, dass er nicht dasselbe für mich empfunden hat wie ich für ihn, oder?«
»Aber wir haben alle gedacht, dass er das bloß gesagt hat, weil er keine Erfahrung mit Mädchen hat«, sagte ich. »Weißt du nicht mehr, wie Tina gesagt hat …«
»Ja, ja, ich weiß, was sie gesagt hat. Dass er wie das Biest aus ›Die Schöne und das Biest‹ ist und nicht daran gewöhnt ist, von Menschen geliebt zu werden. Deshalb weiß er nicht, wie er darauf reagieren soll, wenn ihm jemand so etwas sagt. Tja, soll ich dir mal was sagen? Tina hat sich geirrt. Es lag nicht daran, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren soll. Er hat mich einfach nicht geliebt, aber er wollte mich nicht verletzen und hat es mir deshalb nicht gesagt. Oder anders ausgedrückt: Er hat mir die ganze Zeit über bewusst falsche Hoffnungen gemacht.«
Ich musste tief Luft holen. »Nein, Lilly«, sagte ich. »Das glaub ich nicht! Ich meine, vielleicht hat er gedacht, dass er …«
»… dass er noch lernen wird, mich zu lieben?« Lilly rang sich ein verbittertes Lächeln ab. »Tja, das hat offensichtlich nicht geklappt, was?«
»Oh, Lilly«, sagte ich noch einmal. Ich hätte JP auf der Stelle umbringen können. Echt wahr. Ich konnte nicht fassen, dass er ihr so was antut.
Und dann auch noch in der Schule! Ausgerechnet! Ich meine, hätte er nicht warten können, bis sie irgendwo alleine waren? Er hätte zum Beispiel mit ihr in »Ray’s Pizzeria« gehen und es ihr dort sagen können, damit sie in Ruhe weinen kann.
Was denken sich diese Männer nur immer?
Ich bringe ihn um. Das meine ich ganz ernst. Ich werde ihn umbringen.
Mir war gar nicht klar, dass ich das laut gesagt hatte, bis Lilly mich am Handgelenk packte. »Nein, Mia. Tu das nicht.«
Ich sah sie erstaunt an. »Tu was nicht?«
»Sprich ihn nicht darauf an. Bitte. Es ist meine Schuld. Ich … ich hab ja gewusst, dass er mich nicht
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