Keine Pizza für Commissario Luciani
und habe mich ablenken lassen.«
Er betastete seine Wange und spuckte einen Brocken Blut und Speichel aus.
»Wo ist er hin?«, fragte der Inspektor und legte die Hand an die Waffe.
Marco Luciani schüttelte den Kopf. »Er hat versucht, in die Richtung abzuhauen, aber er hatte Pech.«
»Das heißt?«
»Er muss die Möwen gestört haben, die dort brüten. Sie haben sich plötzlich auf ihn gestürzt, haben ihn angegriffen. Das war
… irre. Wie eine Szene aus dem Hitchcock-Film. Er wollte ihnen ausweichen, tat zwei Schritte rückwärts, genau an der Stelle,
wo der Weg sich verengt, und ist abgestürzt.«
Valerio riss die Augen auf. »Das also war dieser tierische Schrei, den ich gehört habe. Einen Moment habe ich schon befürchtet,
du wärst abgestürzt.«
Marco Luciani trat an den Wegrand, aber alles drehte sich um ihn, und er traute sich nicht hinabzuschauen. »Siehst du etwas?«,
fragte er.
»Nicht die Bohne. Ich rufe ein Rettungsteam.«
|392| Zwei Stunden später, während der Horizont allmählich heller wurde, luden sie Minister Ranieri, den Kalabreser und die Leiche
Rodolfo Russos, genannt »Belmondo«, auf das Schnellboot der Hafenpolizei. Auch wenn Letzterer, nachdem er am Ende seines Sturzes
aus fünfzig Meter Höhe Meer und Felsen geküsst hatte, dem französischen Schauspieler nicht mehr allzu ähnlich sah.
Die Möwen flogen kreischend um die Insel herum, als wollten sie klarstellen, wer hier der Herr im Hause war.
»Jetzt haltet doch mal den Schnabel, geht auf eure eigenen Eier, ihr Jonathäner«, bellte Valerio, während er humpelnd an Bord
stieg.
»Bring mich nicht zum Lachen, das tut weh«, sagte Irina, die einen Eisbeutel auf ihre geschwollene Wange hielt.
»Kommst du nicht an Bord, Lucio?«
»Fahrt ihr mal voraus, Leute«, sagte Marco Luciani, »ich habe noch was zu erledigen.«
|393| Sechsundsechzig
Luciani
Santo Stefano, April
Marco Luciani holte die Leiter, die er an der Gefängnismauer gelassen hatte, und lud sie sich auf die Schulter. In der Linken
hielt er den Sack mit seinem Werkzeug, außerdem einen Pickel, den er sich von den Archäologen ausgeborgt hatte.
Er spürte, dass er einen genialen Einfall gehabt hatte und dass dieser triumphale Tag mit dem Gipfel des Triumphes enden würde.
Betrachtete er die Sache allerdings rational, dann bestand doch eine recht hohe Wahrscheinlichkeit, dass er sich gerade total
zum Otto machte. Und deshalb hatte er auch auf Zeugen verzichtet: Wenn er sich schon blamierte, dann nur vor sich selbst,
ohne sein Image bei den eigenen Leuten zu ruinieren.
In Zelle Nummer vierzehn des Fegefeuers gab es eine Nische, aber sie war offen und leer. Wenn dort jemand etwas versteckt
hatte, dann vor sehr langer Zeit. Und dieser Jemand oder ein anderer war dann zurückgekehrt, um es sich zu holen. Der Jemand
war jedoch sicher nicht Ranieri gewesen.
Der Kommissar ging den Weg weiter, ließ den Friedhof hinter sich und steuerte die Gebäude an, in denen einst die Ställe und
Werkstätten untergebracht gewesen waren. Erst als er beim Fußballfeld ankam, blieb er stehen, um den gewaltigen Gefängnisbau
zu betrachten. Die Insel summte nur so von den Geräuschen der Nacht. Um nichts in der Welt wollte er sich aber im Finsteren
in das hohe Gras vorwagen, in dem es wohl vor ekligem Geschmeiß nur so wimmelte, und deshalb legte er Leiter und Werkzeug
ab, |394| setzte sich auf ein Mäuerchen und wartete auf den Morgen. Noch einmal rekonstruierte er im Geiste, was in jener Nacht, vor
vierzig Jahren, geschehen sein konnte.
Marietto Risso war der Schlacht von Santo Stefano entkommen, mit dem Kopf des enthaupteten Tarantino und dem der Themis, aber
die Feinde hatten ihn umzingelt, und um zu entwischen, musste er seine Trophäe an einem sicheren Ort verstecken, um irgendwann
zurückzukehren und sie zu holen. Er hatte kein Werkzeug dabei, nur ein Messer. Er konnte nichts in die Wände des Gefängnisses
einmauern, nur in der Erde graben. Und er musste es schnell tun, nachts, musste einen unscheinbaren Ort suchen, mit festen
Orientierungspunkten, die auch noch nach vielen Jahren gestatteten, die Stelle zu lokalisieren.
Staunend betrachtete der Kommissar, wie die Morgendämmerung mit ihren rosa Fingern über das Meer strich, und dachte, dass
dieser spektakuläre Tagesanbruch tatsächlich von der Rückkehr einer Göttin künden könnte. Schließlich kletterte er von der
Mauer und maß mit seinen langen Schritten die
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