Keine Pizza für Commissario Luciani
auch einer Reihe von historischen
Fakten. Lysipp arbeitete lange in Griechenland, in Olymp, Rhodos, Delphi und Athen, aber wir haben auch Belege dafür, dass
er sich in Italien aufhielt und in Rom und Taranto sogar eine eigene Werkstatt unterhielt.
›Meiner Meinung nach stellt die Statue eine Göttin dar‹, erklärt der Professor, ›das verwendete Material, die Haltung, die
Größe, alles lässt darauf schließen, das diese Statue geschaffen wurde, um in der Öffentlichkeit ausgestellt zu werden, vermutlich
auf einer großen Piazza. Leider werden uns durch das Fehlen des Kopfes wichtige Hinweise vorenthalten, aber trotzdem lassen
sich einige, nicht streng wissenschaftliche Vermutungen anstellen. Die |272| dargestellte Frau steht aufrecht, in feierlicher Haltung. Fast mahnend. Meine Hypothese ist, dass die Statue die Göttin Themis
darstellt, die Verkörperung der Gerechtigkeit; dies würde auch ihre Präsenz in der Gegend von Ventotene erklären, wohin Familienmitglieder
der römischen Kaiser verbannt wurden, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen. Oder die man loswerden wollte. Die Göttin
der Gerechtigkeit sollte sie gemahnen, nicht wieder der Sünde zu verfallen und über die verhängte Strafe nachzudenken.‹«
Befriedigt beendete Minister Ludovico Ranieri die Lektüre der Zeitung. Sein alter Freund, Professor Taylor, hatte sich ganz
vorzüglich verhalten. Und der Journalist hatte gute Arbeit geleistet. Auch die beiden neuen Fotos, die er der Zeitung hatte
zukommen lassen, kamen voll zur Geltung. Man hatte ihnen eine Graphik zur Seite gestellt, die Ausmaße und Charakteristiken
des Meisterwerks illustrierte. Um sich beim Minister für die Exklusivrechte erkenntlich zu zeigen, hatte der Verantwortliche
des Kulturteils noch einen persönlichen Kommentar dazugestellt, in dem Ranieris Amtsvorgänger gerüffelt wurde.
»Vergangenes Jahr hat Italien, mit dem Segen des damaligen Kulturministers Augusto De Giovanni, die Insel Santo Stefano für
ein Butterbrot an eine Luxemburger Firma verkauft, an die Wilhelmina, deren Eigentümer im Hintergrund bleiben. Santo Stefano
war immer ein Kleinod, sowohl in ökologischer (nicht von ungefähr stehen ihre Gewässer unter Naturschutz) wie kultureller
Hinsicht. Die Insel hat eine lange Geschichte, voller ruhmreicher und auch schmerzlicher Kapitel. Sie beherbergt eines der
faszinierendsten und mysteriösesten Gebäude des Mittelmeerraums, einen Gefängnisbau in der Form eines Panopticons, in dem
Persönlichkeiten einsaßen, die in Italien Geschichte geschrieben haben, von Luigi Settembrini bis Sandro Pertini. Alle Aufrufe
gegen einen Verkauf blieben |273| ungehört, und jetzt geschieht, was zu erwarten war: Die Ausgrabungsarbeiten haben zu einem sensationellen Fund geführt, auf
den noch weitere folgen könnten. Juristisch betrachtet, bleibt der italienische Staat der rechtmäßige Eigentümer der Statue,
wie der derzeitige Minister Ludovico Ranieri erklärte, doch falls die Wilhelmina einen Rechtsstreit über die Entschädigungszahlung
anstrengen sollte, könnte die Entdeckung den Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Laut Umfeld des Ministers ist man sich nicht
sicher, ob man tatsächlich in den Staatssäckel greifen soll (auch die Restaurierung wird sehr kostspielig sein) und bis zu
welcher Summe. Sicher muss der Gefahr begegnet werden, dass die Bronze von Santo Stefano aus Italien verschwindet, um in irgendeinem
ausländischen Museum ausgestellt zu werden, wie es vielen unserer Meisterwerke ergangen ist, von der Venus von Morgantina
bis zum Athleten des Lysipp, der einzigen originalen Bronzeskulptur, die dem griechischen Bildhauer bis dato zugeschrieben
wurde. Der Minister und die gesamte Regierung werden darüber zu wachen haben, dass die Operation der Veräußerung der Insel
– an sich schon ein Fehler – nicht Konsequenzen zeitigt, die schlimmer sind, als man erwarten durfte. Oder als zumindest wir
erwarten konnten.«
In cauda venenum
, dachte Ludovico. Das ganze Gift steckte im letzten Satz:
Wir
hatten keine Ahnung, was sich auf der Insel befinden könnte, jemand anders vielleicht schon. Vielleicht wusste dieser Jemand
es sogar genau und hat sie deshalb verkauft. Zum Glück war der Verkauf von Grossi, dem Finanzminister, abgewickelt worden,
im Zweifelsfall würden sie über ihn herfallen. Wie auch immer, den Satz hätte er sich schenken können, dieser hinterfotzige
Journalist. Ranieri rief seinen
Weitere Kostenlose Bücher