Keine zweite Chance
wiederbringt. Er hat versprochen, dass niemandem was passiert, wenn ich nichts verrate. Aber wenn ich Verne anrufe, oder die Polizei, dann bringt er Perry um.«
Verne hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Ich hab versucht, ihn aufzuhalten. Ich wollte aufstehen, aber Pavel hat mich wieder zurückgestoßen. Und dann …«, ihre Stimme wurde leise, »… dann ist er weggefahren. Mit Perry. Die nächsten sechs Stunden waren die längsten meines Lebens.« Aus dem Augenwinkel sah sie mich schuldbewusst an. Ich wusste, was sie dachte. Sie hatte diese schreckliche Erfahrung sechs Stunden lang durchgestanden. Ich lebte seit anderthalb Jahren damit.
»Ich hab nicht gewusst, was ich tun soll. Ich weiß, dass mein Bruder ein schlechter Mensch war. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er meinen Kindern etwas tut. Er war ihr Onkel.«
Ich dachte an meine Schwester Stacy und an die Worte, mit denen ich sie verteidigt hatte.
»Die ersten vier Stunden hab ich nur am Fenster gestanden. Das war mir einfach zu viel. Um Mitternacht hab ich ihn dann auf dem Handy angerufen. Er war auf dem Rückweg. Perry geht es gut, hat er gesagt. Es war nichts passiert. Er hat sich bemüht, munter zu klingen, aber irgendwie war seine Stimme komisch. Ich hab gefragt, wo er ist. Er war auf der Route 80 in der Nähe von Paterson. Ich konnte nicht ruhig im Haus sitzen und auf ihn warten. Ich hab gesagt, wir treffen uns auf halbem Weg. Dann hab ich Verne junior ins Auto gepackt und wir sind losgefahren. An der Tankstelle bei der Abfahrt nach Sparta …« Sie sah Verne an. »Perry hat nichts gefehlt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war.«
Verne zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe herum. Wieder sah er zur Seite.
»Als ich gehen wollte, hat Pavel mich am Arm festgehalten. Er hat mich ganz nah an sich rangezogen. Ich hab gesehen, wie viel Angst er hatte. Er hat gesagt, egal was passiert, ich darf nie jemandem was davon sagen. Wenn sie von mir hören – wenn sie erfahren, dass er eine Schwester hat –, würden sie uns alle umbringen.«
»Wer sind sie?«, fragte Rachel.
»Ich weiß es nicht. Die, für die er gearbeitet hat. Die Leute, die die Babys gekauft haben, glaube ich. Er hat gesagt, sie sind total durchgeknallt.«
»Was haben Sie dann getan?«
Katarina öffnete den Mund, schloss ihn wieder, setzte noch einmal an. »Dann bin ich zum Supermarkt gefahren«, sagte sie
und stieß ein Geräusch hervor, das sogar ein Lachen gewesen sein könnte. »Ich habe den Kindern Saftpackungen gekauft. Ich habe sie beim Einkaufen trinken lassen. Ich wollte einfach was Normales tun. Um – ich weiß nicht – um das alles hinter mich zu bringen.«
Katarina sah Verne an. Ich folgte ihrem Blick. Wieder musterte ich diesen Mann mit den langen Haaren und den schiefen Zähnen. Nach einem Moment drehte er sich zu ihr um.
»Schon gut«, sagte Verne mit der sanftesten Stimme, die ich je gehört habe. »Du hast Angst gehabt. Du hast dein Leben lang Angst gehabt.«
Katarina begann zu schluchzen.
»Ich will, dass du keine Angst mehr haben musst, okay?«
Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie beruhigte sich so weit, dass sie sagen konnte: »Er hat gesagt, sie würden uns was antun. Der ganzen Familie.«
»Dann beschütze ich uns«, sagte Verne einfach. Er sah mich über ihre Schulter hinweg an. »Sie haben mein Kind mitgenommen. Sie haben meine Familie bedroht. Haben Sie verstanden?«
Ich nickte.
»Ich häng da mit drin. Ich bin mit dabei, bis das Ganze zu Ende ist.«
Rachel lehnte sich zurück. Ich sah, wie sie das Gesicht verzog. Ihre Augen schlossen sich. Ich wusste nicht, wie lange sie noch durchhalten würde. Ich rückte näher zu ihr. Sie hob die Hand. »Katarina, wir brauchen Ihre Hilfe. Wo hat Ihr Bruder gewohnt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Denken Sie nach. Haben Sie irgendwas von ihm, das uns vielleicht einen Hinweis darauf geben könnte, für wen er gearbeitet hat?«
Sie ließ ihren Mann los. Verne streichelte ihr Haar mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Kraft, um die ich ihn beneidete.
Ich sah Rachel an und fragte mich, ob ich den Mut hätte, das Gleiche zu tun.
»Pavel war gerade im Kosovo«, sagte Katarina. »Und er ist bestimmt nicht mit leeren Händen zurückgekommen.«
Rachel nickte. »Sie glauben, er hat eine schwangere Frau mitgebracht?«
»Das hat er sonst immer gemacht.«
»Wissen Sie, wo sie wohnt?«
»Die Frauen wohnen immer im gleichen
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