Keine zweite Chance
ausprobieren, ob wir dir eine Fiberglasoptik verpassen können, aber das ist schon ein bisschen riskanter.« Sie ordnete die Ausrüstung, konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Tätigkeit. Als sie wieder sprach, blickte sie zu Boden. »Ich wollte dir noch was sagen.«
Ich beugte mich zu ihr.
»Erinnerst du dich noch an die Scheidung meiner Eltern?«, fragte sie.
»Ja, klar.« Das war, als wir uns gerade kennen gelernt hatten.
»Obwohl wir uns so nahe gestanden haben, haben wir nie darüber gesprochen.«
»Ich hatte den Eindruck, dass du das nicht wolltest.«
»Wollte ich auch nicht«, erwiderte sie hastig.
Genau wie ich, dachte ich. Ich war egoistisch. Wir waren angeblich zwei Jahre lang ineinander verliebt gewesen – und trotzdem habe ich ihr nie auch nur einen Anstoß gegeben, sich mir in diesem Punkt anzuvertrauen. Es war mehr als ein vager Eindruck gewesen, der mich davon abgehalten hatte, danach zu fragen. Ich hatte gewusst, dass sie aus dieser Zeit ein dunkles, unglückliches Geheimnis mit sich herumtrug. Ich wollte nicht daran rühren, es
nicht aufschrecken, wollte nicht, dass womöglich etwas zu Tage trat, das sich gegen mich richtete.
»Mein Vater war schuld.«
Beinahe hätte ich so etwas Dummes gesagt wie: »An so etwas ist niemand schuld« oder: »Man kann das aus verschiedenen Blickwinkeln sehen«, aber dank eines plötzlichen Anflugs von gesundem Menschenverstand hielt ich meine Zunge im Zaum. Rachel sah noch immer zu Boden. »Mein Vater hat meine Mutter zugrunde gerichtet. Ihre Seele kaputtgemacht. Willst du wissen, wie?«
»Ja.«
»Er hat sie betrogen.«
Sie sah mir in die Augen. Ich wandte den Blick nicht ab. »Es war ein selbstzerstörerischer Kreislauf«, sagte sie. »Er betrog sie, sie hat’s gemerkt, er hat geschworen, dass er es nie wieder tut. Aber dann hat er’s doch immer wieder getan. Das hat an meiner Mutter genagt und sie zerfressen.« Rachel schluckte und wandte sich wieder ihren High-Tech-Spielzeugen zu. »Als ich in Italien war und gehört habe, dass du mit einer anderen …«
Mir gingen tausend verschiedene Dinge durch den Kopf, die ich hätte sagen können, doch sie waren alle bedeutungslos. Genau wie das, was sie mir erzählte, ehrlich gesagt. Es erklärte zwar vieles, aber es war ganz eindeutig ein bisschen spät. Ich blieb sitzen, rührte mich nicht von der Stelle.
»Es war eine Überreaktion«, sagte sie.
»Wir waren jung.«
»Ich wollte nur … Ich hätte dir das damals sagen müssen.«
Sie hielt mir die ausgestreckte Hand entgegen. Ich wollte etwas sagen, hielt dann jedoch inne. Zu schnell. Das ging mir zu schnell. Seit dem Anruf mit der Lösegeldforderung waren erst sechs Stunden vergangen. Die Sekunden tickten mit einem dröhnenden, stechenden Geräusch in meiner Brust dahin.
Ich sprang auf, als das Telefon klingelte, aber es war das normale
Festnetztelefon, nicht das Handy der Entführer. Ich nahm den Hörer ab. Lenny war am Apparat.
»Was ist los«, fragte er ohne Vorrede.
Ich sah Rachel an. Sie schüttelte den Kopf. Ich nickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich sie verstanden hatte. »Nichts«, sagte ich.
»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du Edgar im Park getroffen hast.«
»Mach dir keine Sorgen.«
»Der alte Schweinehund wird dich bescheißen, das ist dir doch klar?«
Über Edgar Portman konnte man mit Lenny nicht vernünftig reden. Im Übrigen konnte er durchaus Recht haben. »Ich weiß.«
Wir schwiegen.
»Du hast Rachel angerufen«, sagte er.
»Ja.«
»Warum?«
»Nicht weiter wichtig.«
Wieder schwiegen wir. Dann sagte Lenny: »Du verheimlichst mir was, stimmt’s?«
»Wie ein schlecht sitzendes Toupet.«
»Ja, schon okay. Hey, geht das mit dem Racquetball morgen früh klar?«
»Das muss ich wohl absagen.«
»Kein Problem. Marc?«
»Ja?«
»Wenn du mich brauchst …«
»Danke, Lenny.«
Ich legte auf. Rachel war mit ihren elektronischen Geräten beschäftigt. Was sie gesagt hatte, war inzwischen verklungen, hatte sich in Rauch aufgelöst. Sie blickte auf und sah etwas in meinem Gesicht.
»Marc?«
Ich sagte nichts.
»Wenn deine Tochter noch lebt, holen wir sie nach Hause. Versprochen.«
Und zum ersten Mal war ich nicht sicher, ob ich ihr glauben konnte.
22
Special Agent Tickner starrte auf den Bericht hinunter.
Der Entführungs- und Mordfall Seidman war schon fast ganz unten im Ablagestapel verschwunden. Das FBI hatte sich in den letzten Jahren andere Prioritäten gesetzt. An erster Stelle stand der
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