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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Schultern, »… ich brauche keine Waffe.«
    »Du willst mich nur beschützen«, meinte sie.
    Er antwortete nicht.
    »Wie süß von dir.« Das war es wirklich. Doch sie wollte es unter anderem selbst tun, um ihn zu schützen. Heshy war viel verletzlicher als sie. Lydia machte sich keine Sorgen darum, dass man sie erwischen könnte. Zum Teil lag das an ihrem klassisch übersteigerten Selbstvertrauen. Erwischt werden die Dummen, nicht die Klugen und Vorsichtigen. Aber mehr noch wusste sie, dass sie niemals verurteilt werden würde, selbst wenn man sie schnappen sollte. Abgesehen davon, dass sie aussah wie das hübsche Mädchen von nebenan, was ohne Zweifel von Nutzen wäre, würde kein Ankläger gegen die weinerliche Oprahisierung ihres Falles ankommen. Lydia würde ihre »tragische« Vergangenheit heraufbeschwören. Sie würde alle möglichen Misshandlungen anführen. Sie würde in Talkshows weinen. Sie würde über die verzweifelte Lage von Kinderstars reden, über das Unglück, das ihr widerfahren war, indem man sie in die Rolle der Pixie Trixie
gedrängt hatte. Sie würde hinreißend, leidend und unschuldig aussehen. Und die Öffentlichkeit – ganz zu schweigen von der Jury – würde alles begierig aufsaugen.
    »Ich glaube, es ist besser so«, sagte sie. »Wenn du auf ihn zukommst, haut er vielleicht ab. Aber wenn ich armes kleines Frauchen …« Lydia ließ den Satz mit einem kurzen Achselzucken ausklingen.
    Heshy nickte. Sie hatte Recht. Es müsste ein Kinderspiel sein. Sie streichelte ihm übers Gesicht und reichte ihm den Autoschlüssel.
    »Weiß Pavel, was er zu tun hat?«, erkundigte sich Lydia.
    »Ja. Er erwartet uns dort. Und er wird das Flanellhemd anhaben.«
    »Dann sollten wir uns jetzt auf den Weg machen«, sagte sie. »Ich rufe Dr. Seidman an.«
    Heshy entriegelte die Wagentüren mit der Fernbedienung.
    »Oh«, sagte sie. »Bevor es losgeht, muss ich noch was nachsehen.«
    Lydia öffnete die Hecktür. Das Kind auf dem Rücksitz schlief tief und fest. Sie prüfte, ob die Haltegurte richtig saßen. »Ich setz mich lieber nach hinten, Pu Bär«, sagte sie. »Falls ein kleiner Jemand hier aufwacht.«
    Heshy zwängte sich auf den Fahrersitz. Lydia zog das Handy und den Sprachverzerrer aus der Tasche und wählte die Nummer.

23
    Wir bestellten uns Pizza, was wohl ein Fehler war. Nächtliche Pizzas auf der Bude sind Teil des Studentenlebens. Noch so eine wenig subtile Erinnerung an die Vergangenheit. Ich starrte weiter das Handy an und wünschte, es würde klingeln. Rachel schwieg,
aber das war in Ordnung. Wir hatten immer schon gemeinsam schweigen können. Auch das war eigenartig. In vielen Punkten fielen wir in alte Verhaltensweisen zurück, setzten genau dort wieder an, wo wir aufgehört hatten. In vielen anderen Punkten waren wir Fremde, die durch einen verworrenen, dünnen Faden miteinander verbunden waren.
    Seltsamerweise war meine Erinnerung plötzlich verschwommen. Ich hatte gedacht, sobald ich Rachel sah, würde mir alles sofort wieder gegenwärtig sein. Doch mir kamen nur wenige Einzelheiten in den Sinn. Es war mehr ein Gefühl, ein Eindruck – so wie ich mich an die raue Kälte New Englands erinnerte. Ich weiß nicht, warum mir nicht mehr einfiel. Und ich wusste nicht recht, was das bedeutete.
    Rachel zog eine Augenbraue hoch, während sie mit ihrer elektronischen Ausrüstung herumhantierte. Sie nahm einen Bissen von der Pizza und sagte: »Nicht so gut wie bei Tony’s.«
    »Der Laden war furchtbar.«
    »Ein bisschen schmierig«, stimmte sie zu.
    »Ein bisschen? Bekam man bei der Familienpizza nicht einen Gutschein für eine Gefäßerweiterung dazu?«
    »Na ja, man konnte schon spüren, wie sich die Ablagerungen durch die Adern wälzten.«
    Wir sahen uns an.
    »Rachel?«
    »Ja?«
    »Und wenn sie nicht anrufen?«
    »Dann haben sie sie nicht, Marc.«
    Ich ließ das sacken. Ich dachte an Lennys Sohn Conner, an das, was er sagte und tat, und versuchte, diese Verhaltensweisen auf das Baby zu übertragen, das ich zuletzt in der Wiege gesehen hatte. Ich bekam es nicht zusammen, doch das wollte nichts heißen. Es gab Hoffnung. Daran hielt ich mich fest. Wenn meine Tochter tot war,
wenn das Telefon nie wieder klingelte, würde die Hoffnung mich umbringen, so viel war klar. Aber das interessierte mich nicht. Ich wollte lieber so umkommen, als um jeden Preis alt zu werden.
    Also nährte ich diesen Hoffnungsschimmer. Und ich, der Zyniker, erlaubte mir, an das Beste zu glauben.
    Es war schon fast zehn,

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