Keiner kuesst so heiß wie du

In dem Umschlag findest Du auch den Flugschein, von dem Du mir nicht geglaubt hast, dass ich ihn besitze. Doch wie Du siehst, er existiert. So wie manch anderes, das weniger ehrenhaft ist.
    Flucht ist eine Illusion. Ganz egal, wie schnell man rennt, den Wahrheiten des Lebens kann man nicht entkommen. Als ich wieder nach Hause zurückgekehrt war, musste ich mich meinen Eltern stellen, die sich große Sorgen gemacht haben. Ihren innigsten Wunsch, eine anständige Frau zu heiraten und eine Familie zu gründen, habe ich schließlich als Weg gesehen, um vor meiner Wirklichkeit zu flüchten. Also lernte ich Deine wunderbare Mutter kennen, die ich bald darauf geheiratet habe. Damit war mein Glück eigentlich komplett. An Angela habe ich kaum noch gedacht. Bis ich durch Zufall erfuhr, dass sie in der Zwischenzeit mein Kind zur Welt gebracht hatte.
    Zu dieser Zeit hatte ich bereits Kinder mit Deiner Mutter. Ich wusste also, was es heißt, mich meiner väterlichen Verantwortung zu stellen.
    Ich hoffe, dass Du eines Tages verstehen wirst, dass ich mein eigen Fleisch und Blut nicht zurückweisen konnte. Als ich Angela wiedersah, flammte die alte Leidenschaft, die ich unterdrückt hatte, um ein guter Sohn zu sein, sofort wieder auf.
    Ich bitte Dich, sei kein guter Sohn, RJ!
    Wütend und verständnislos ließ RJ den Brief sinken. Sein ganzes Leben lang hatte er versucht, die Ziele zu erreichen, die seine Eltern ihm gesteckt hatten. Nur um jetzt zu lesen, dass das ein kolossaler Fehler gewesen war? Missmutig las er weiter.
    Dein Leben lang haben wir Dir gesagt, welchen Weg Du einschlagen sollst. Deine Mutter und ich haben die besten Schulen für Dich ausgewählt und Dich behutsam auf Deine spätere Rolle bei der Kincaid Group vorbereitet. Aber wir haben Dich nie gefragt, was Du willst. RJ, mein Sohn, ich will, dass Du die Gelegenheit ergreifst, in Dich zu gehen und herauszufinden, was Du wirklich und von ganzem Herzen willst.
    Leise fluchend ließ er das Blatt sinken. Wie anmaßend von seinem Vater zu glauben, er habe sein ganzes Leben nur nach den Wünschen seiner Eltern ausgerichtet!
    Er kochte vor Zorn, als er weiterlas.
    Tatsache ist, mein Sohn, dass ich zwei Frauen im Leben geliebt habe.
    Fassungslos schüttelte RJ den Kopf.
    Ich habe über Angela und Jack kein Wort verloren, weil mir mein gesellschaftlicher Status wichtiger war. Ich war verrückt nach den Einladungen, der Mitgliedschaft im Jachtclub und so weiter. Es war eine große Genugtuung, ein führendes Mitglied der Gesellschaft von Charleston zu sein.
    RJs Mutter entstammte einer alten Gelddynastie Charlestons, und rückblickend war das vermutlich der Hauptgrund für seinen Vater gewesen, sie zu heiraten. Aber wo war sie durch die Ehe mit Reginald Kincaid nun gelandet?
    Ich bin nicht stolz auf meine Entscheidungen. Doch dass ich Angela und meinen Sohn verleugnet habe, möchte ich gern wiedergutmachen. Deshalb übertrage ich Jack die Mehrheit der Firmenanteile. Ihm war es nicht vergönnt, auf der Sonnenseite des Lebens aufzuwachsen, ohne Vater und ohne die Privilegien, die ihr genießen durftet. Mir ist bewusst, dass das für Dich sehr ungerecht klingen muss. Aber ich weiß auch, dass Du klug genug bist, um meine Entscheidung zu verstehen und stark genug, um Dein Leben erfolgreich zu gestalten, entweder in oder außerhalb der Firma.
    Wenn Du diesen Brief liest, dann, weil ich nicht mehr lebe, aus welchen Gründen auch immer. Ich schreibe Dir das, um mich Dir gegenüber zu erklären. Ich liebe Dich, RJ, und ich bin sehr stolz auf Dich.
    Dad
    RJ sank in den Sessel. Seine Wut hatte sich beim Lesen des letzten Absatzes in Luft aufgelöst. Dafür breitete sich nun ein tiefer Schmerz in ihm aus.
    Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn, zusammen mit den anderen Dingen, zurück in den Umschlag.
    Sein Dad hatte ihm erlaubt, die Kincaid Group zu verlassen, wenn er das wollte. Er konnte überall hinziehen, ein neues Leben in einer neuen Stadt beginnen.
    Ein kalter Schauer erfasste ihn beim Gedanken an die unzähligen Möglichkeiten, die sich vor ihm auftaten. Doch in diesem Moment wollte er nur eins sehen: Brookes unwiderstehliches Lächeln.
    „Brooke! Du hast es versprochen, dass du mir alles erzählst!“ Evies Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
    Brooke hielt den Hörer ein Stückchen vom Ohr weg. „Das versuche ich ja. Aber das Wochenende ist doch noch gar nicht vorbei. Ich sitze auf einem Balkon mit einem atemberaubenden Blick über die Great Smoky