Keiner wird weinen
die Pappel, essen da oben unser Eis und beobachten
die Straße. Das ist echt toll!«
Ihr Geld reichte nur für eine Portion Eis. Sie kletterten rasch die dicken Äste der ausladenden Pappel hinauf, machten es
sich bequem und leckten abwechselnd am Eis. Auf einem Baum sitzen und Eis essen war wirklich toll.
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?« fragte Wadik mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Erzähl mal.« Sonja nickte und leckte einen langen Tropfen von der Waffel.
»Fällst du dann auch nicht vom Baum?« Wadik kniff die Augen zusammen.
»Paß auf, daß du selber nicht runterfällst!«
»Ich hab gesehen, wie euer Matwej entführt wurde«, flüsterte Wadik, die klebrigen Lippen dicht an Sonjas Ohr.
»Was murmelst du da?« fragte Sonja. »Wer hat ihn entführt? Wann?«
»Als ihr dachtet, er wäre weggelaufen.« Wadik schürzte vielsagend die Lippen. »Ich hab hier auf dem Baum gesessen. Ich hab
dich beobachtet. Und die Straße. Kuck, von hier kann man alles sehen, was hinterm Haus passiert.«
Tatsächlich war der von dem alten vierstöckigen Gebäude mit dem Torbogen begrenzte Teil der Straße von der Pappel aus gut
einzusehen.
»Also«, fuhr Wadik fort, »du hast dich auf die Schaukel gesetzt, und Matwej hat mit einer Promenadenmischung gespielt. Dann
ist er in den Torbogen gelaufen. Das konntest du von der Schaukel aus nicht sehen. Und auf einmal war da ein Mann mit einer
Leine. Eh, ißt du nun das Eis oder nicht? Das schmilzt doch.«
»Du kannst es allein aufessen, ich mag nicht mehr.« Sonja gab Wadik die Eiswaffel. »Was für ein Mann?«
»So ein Junger, in Jeans. Kein Penner oder Säufer. Sah anständig aus. Aber Matwej hat sich gewehrt, er wollte nicht mitgehen.
Mann, hat der ihn gezogen, schlimm!«
»Komm, erzähl mal, wie sah der Mann aus?« flüsterte Sonja.
»Na, ganz normal.« Wadik zuckte die Achseln. »Hab ich doch schon gesagt, jung, in schwarzen Jeans.«
»Wieso bist du nicht früher zu uns gekommen und hast uns das erzählt? Wir haben überall gesucht, den ganzen Hof zusammengebrüllt,
haben jeden gefragt. Und dann überall Zettel ausgehängt … Warum bist du nicht zu uns gekommen?Du hast doch gewußt, wem der Hund gehört!« flüsterte Sonja erregt.
Vor Empörung stockte ihr der Atem, deshalb konnte sie nur flüstern.
»Na ja, ich …«, stammelte Wadik, »ich dachte, vielleicht war das ja in Ordnung. Ein Bekannter oder so.«
»Ein Bekannter!« äffte Sonja ihn nach. »Der Hund wurde vor deinen Augen gestohlen!«
»Er hat ihn doch zurückgebracht. Ich wollte es euch gerade erzählen, da hab ich gesehen, er hat Matwej zurückgebracht. Und
überhaupt, Mama hat gesagt: Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten.«
»Ach, du!« Sonja seufzte. »Bleib ruhig auf deinem Baum sitzen!«
Sie kletterte ein Stück tiefer, hängte sich an einen dicken Ast, ließ ihn los und landete weich auf dem Boden.
»Aber denk dran, das ist ein Geheimnis!« rief Wadik ihr nach. »Ich hätte das auch für mich behalten können!«
Sonja rannte nach Hause, ohne sich umzudrehen.
Vielleicht hatte Fjodor ein Auge auf Vera geworfen und wollte sie auf diese Weise kennenlernen? überlegte sie. Aber warum
den Hund entführen? Das ist doch gemein. Er hat geschwindelt, er habe ihn zufällig gefunden, ihn vor irgendwelchen Rüden gerettet.
Und ich hab mich immer gewundert, warum Matwej solche Angst vor ihm hat.
Vera will ihn heiraten, dabei ist er ein Lügner! Ich muß es ihr erzählen. Mama würde das tun. Nein, sie würde es nicht erst
Vera erzählen, sie würde Fjodor selbst ohne Umschweife fragen: ›Warum haben Sie das getan?‹ Und was würde dabei rauskommen?
Nichts Gutes. Wenn er die ganze Geschichte mit Matwej tatsächlich eingefädelt hat, dann ist er ein hinterhältiger, grausamer
Mensch. Mit so einem offen zu reden ist gefährlich, bei so einem muß man sehr vorsichtig sein.
Und was würde Papa tun? Papa würde gar nichts erzählen oder herausfinden wollen. Er würde mit so einem Menscheneinfach nicht mehr reden. Papa sagt, einem Lumpen kann man nicht erklären, daß er ein Lump ist. Wenn jemand nicht selber begreift,
daß er schlecht handelt, dann überzeugen ihn auch keine Worte.
Ein Aspirant von Papa hatte mal Geld gestohlen, und als Papa davon erfuhr, war er schrecklich niedergeschlagen und empört.
Mama schlug vor: Sag ihm doch auf den Kopf zu, daß er ein Dieb ist. Und Papa hat geantwortet: Wozu? Mama meinte: Damit er
sich schämt! Und Papa hat gesagt: Wenn
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